Mehrgleisige Eisenbahnen

Mehrgleisige Eisenbahnen

Mehrgleisige Eisenbahnen entstehen häufig dadurch scheinbar,1 daß von einem Bahnknotenpunkt oder großen Endbahnhof aus zwei oder mehrere zwei- oder auch eingleisige Bahnen ein Stück weit nebeneinander herlaufen, bis sie auseinander schwenken, um jede einzeln die ihrem Verkehrsziel entsprechende Richtung einzuschlagen. Eine mehrgleisige Eisenbahn im eigentlichen Sinne2 ist dagegen dann. vorhanden, wenn mehrere (mindestens drei) nebeneinander herlaufende Hauptgleise eine gemeinsame Verkehrsaufgabe haben, für die eine zweigleisige Bahn nicht ausreicht und deren Lösung irgendwie auf sie verteilt ist. Die Gleise werden in der Regel paarweise (je ein Gleis für jede Richtung) zur Bewältigung eines bestimmten Teiles der Gesamtausgabe bestimmt. Die Zahl der Gleise ist deshalb meist eine gerade; am häufigsten ist die viergleisige Eisenbahn. Sechsgleisige Eisenbahnen und achtgleisige Eisenbahnen im eigentlichen Sinne sind selten. Dreigleisige Eisenbahnen wurden in vereinzelten Fällen statt viergleisiger ausgeführt. Mit der Verkehrsverteilung auf die Gleispaare hängt eng zusammen die Entscheidung darüber, ob die Gleispaare nach dem Grundsatze des Linienbetriebes oder dem des Richtungsbetriebes zu ordnen sind.

1. Vier Nahgleise, von denen zwei dem Nahschnellverkehr dienen. Auf viergleisigen Nahbahnen, wie solche in Amerika ausgeführt worden sind, dient ein Gleispaar den Nahschnellzügen, d.h. den Nahzügen, die nicht auf allen Stationen halten. Dies ist nach dem Richtungsbetrieb in die Mitte gelegt (Fig. 1). Auf den Hauptstationen kann so zwischen den Schnellzügen und den gewöhnlichen Nahzügen über dazwischen liegende Inselsteige umgestiegen werden. Züge, die auf Teilstrecken Schnellzüge sind, können durch entsprechende Weichenverbindungen (Fig. 1) ohne Gleiskreuzung auf das andere Gleis derselben Fahrrichtung übergehen. Bei Störungen oder Ueberlastungen eines Gleises kann das andere derselben Fahrrichtung ohne Gleiskreuzung vertretungsweise benutzt werden. Auf den Stationen bedürfen die Schnellzuggleise wegen der Innenlage keiner Gleisverschwenkung, die äußeren Gleise einer solchen nur auf den Umsteigstationen. Bei beschränkter Breite hat man wohl statt des mittleren Gleispaares nur ein Gleis angeordnet (dreigleisige Bahn), das dann, je nach der durch die Tageszeit bedingten Hauptverkehrsrichtung, nur in der einen oder anderen Richtung betrieben wird.

2. Ein Ferngleispaar, ein Nahgleispaar. Sobald der auf einer Fernbahn sich abspielende Nahverkehr einen gewissen Umfang annimmt, empfiehlt es sich, ihn auf ein besonderes Gleispaar zu legen, wobei dann das andere Gleispaar, sofern nicht noch ein drittes für die Güterzüge angelegt wird, in der Regel außer dem Fernpersonenverkehr auch den Güterverkehr aufnimmt. Denn, wenn dann auch der Uebelstand bestehen bleibt, daß auf diesem Gleispaar Züge von den schnellsten bis zu den langsamsten laufen, so pflegen doch die besonders schnell fahrenden Züge sich auf gewisse Tagesstunden zusammenzudrängen, so daß man in den Zwischenzeiten die Güterzüge unterbringen kann, für deren Fahrplan man viel beweglicher ist als für den der Personenzüge. Dagegen wirken Güterzüge auf Nahverkehrsstrecken sehr störend und schließen namentlich den für solche besonders erwünschten starren[428] Fahrplan aus. Für diesen Fall hat man vielfach den Richtungsbetrieb in der Weise vorgeschlagen und auch ausgeführt, daß die Nahgleise außen und die Ferngleise innen liegen, wobei sich die Anordnung nach Fig. 2 ergibt. Setzt man zunächst voraus, daß auf den Ferngleisen nur Personenzüge verkehren, so besitzt die Anordnung eine Reihe von Vorteilen: Die Bahnsteige bedingen für die Ferngleise keine Gegenkrümmungen, für die Nahgleise nur auf denjenigen Stationen, die auch dem Fernverkehr dienen; auf diesen läßt sich für jede Fahrrichtung ein Inselbahnsteig zwischen Nah- und Ferngleis anlegen, so daß man ohne Bahnsteigwechsel von einem Nahzug in einen Fernzug gleicher Richtung oder umgekehrt umsteigen kann. Man kann ferner, mittels einzulegender Weichenverbindungen (wie nach Fig. 1), auf beliebigen Stationen aus dem Ferngleis in das gleichgerichtete Nahgleis oder umgekehrt ohne Hauptgleiskreuzung übergehen. Die von einer großen Stadt weiter entfernt liegenden Stationen können so durch besondere Züge bedient werden, die auf den Ferngleisen sämtliche der großen Stadt näher gelegenen oder die nur für die Nahgleise eingerichteten Stationen ohne Halt durchfahren. In Störungsfällen kann zwischen zwei beliebigen Stationen ein Gleis vertretungsweise für das andere derselben Fahrrichtung benutzt werden, ebenfalls ohne Hauptgleiskreuzung. Diese Vorteile würden auch durch Vorhandensein von Ueberholungsstationen kaum beeinträchtigt werden, sofern man die auf solchen etwa vorhandenen Abstellanlagen zwischen die Ferngleise legt. Schwierigkeiten treten dagegen auf, wenn innerhalb der Strecke eine Kreuzungs- oder eine Trennungsstation liegt. Noch schwerwiegender dürfte der Nachteil sein, daß beim Kehren von Nahzügen auf Unterwegsstationen, was das Abflauen des Verkehrs mit wachsender Entfernung von der Großstadt auf verschiedenen Stationen erforderlich machen kann, die Ferngleise gekreuzt werden müssen. Auf der Strecke Stuttgart–Ludwigsburg hat man deshalb die Nahgleise nach innen verlegt, was allerdings Gegenkrümmungen der Ferngleise bedingt. Auf einer Endstation, wo alle Züge kehren müssen, wird man regelmäßig den Richtungsbetrieb aufgeben und die Nahgleise mittels Gleisüberwerfung auf eine Seite legen, sofern man sie nicht, wie in Amerika mehrfach geschehen (so in Boston), in Schleifenform unter oder über der Fernbahn umkehren läßt. Ist hiernach die gedachte Anordnung auch da, wo die Ferngleise nur dem Personenverkehr dienen, trotz unleugbarer Vorteile nicht einwandfrei, so führt sie, sofern die Ferngleise auch den Güterverkehr aufzunehmen haben, einen erheblichen Nachteil mit sich: Auf allen Unterwegsstationen mit Ortsgüterverkehr muß eines der beiden Nahgleise durch Güterbedienungsfahrten gekreuzt werden. Das ist für den Nahverkehr, für den die Einhaltung eines starren Fahrplans wesentlich ist, unleidlich. Die Kreuzungen lassen sich zwar vermeiden, wenn man vor jeder solchen Station die Ferngleise mittels Gleisüberwerfung auf die eine Seite legt und sie jenseits der Station wieder in die Zwischenlage zurückführt, oder wenn man kreuzungsfreie Ueberführungsgleise zwischen den Ferngleisen und dem Ortsgüterbahnhof anordnet. Das verteuert aber die Gesamtanlage erheblich und bedingt eine Verschlechterung der Neigungsverhältnisse, kann jedenfalls nur dann in Frage kommen, wenn es nur in wenigen Fällen zu geschehen hat. Hiernach empfiehlt sich die gedachte Anordnung auch da, wo die Ferngleise keine Güterzüge aufzunehmen haben, nur in besonderen Fällen, wenn der Nahverkehr auf die ganze Länge annähernd gleichmäßig stark ist, und wenn andere Fernbahnen nicht hinzutreten, unter Umständen für ein Teilstück der viergleisigen Bahn. Sonst, und namentlich in den Fällen, wo die Ferngleise auch Güterzüge aufzunehmen haben, verdient der Linienbetrieb in der Regel den Vorzug. Für solche Nahzüge, die von einer Großstadt aus zunächst auf ein Stück Weges die Ferngleise ohne Halt benutzen, ist dann auf der Uebergangsstation ein kreuzungsfreier Uebergang mittels Ueberwerfung herzustellen. Allerdings legt man sich hierbei auf eine bestimmte Uebergangsstation fest. Will man hierin größere Freiheit haben, so kann in Frage kommen, bis zu einer Station Linienbetrieb und von da an Richtungsbetrieb zu wählen.

3. Vier Ferngleise, und zwar ein Personengleispaar, ein Gütergleispaar. Richtungsbetrieb würde bei innenliegenden Gütergleisen auf allen Personenbahnhöfen den Betrieb der Personenzüge stören. Verschubbewegungen von einem Personengleis zum anderen müßten die Hauptgütergleise kreuzen, die vielleicht gerade von Güterzügen besetzt sind. Umsetzen von Kurswagen, Verstärkungswagen, Eilgutwagen, Lokomotivwechsel sowie das Kehren von Zügen würde so behindert und verzögert. Verschubbewegungen zwischen den Hauptgütergleisen und dem an einer Seite liegenden Ortsgüterbahnhof müßten das eine Personengleis kreuzen. Solcher Richtungsbetrieb kommt daher nicht in Frage. Dagegen ist Richtungsbetrieb mit außenliegenden Gütergleisen bisweilen ausgeführt worden. Auf den Bahnhöfen werden dann entweder auf beiden Seiten Ortsgüteranlagen angeschlossen oder es wird auf der dem Ortsgüterbahnhof gegenüberliegenden Seite durch Nebengleise Gelegenheit geschaffen, die für den Ort bestimmten Güterwagen auszusetzen bezw. die von den Zügen mitzunehmenden Wagen vorher aufzuhellen, damit vermieden wird, daß die Zuglokomotive zum Aussetzen und Mitnehmen von Güterwagen beide Personengleise und das Gütergleis der entgegengesetzten Fahrrichtung kreuzen muß. Die Ueberführung der ausgesetzten und der mitzunehmenden Güterwagen auf die andere Bahnhofsseite geschieht dann in Zugpausen mittels Verschublokomotive. Die hierfür erforderlichen Hauptgleiskreuzungen sind gleichwohl ein erheblicher Uebelstand, da die Zugpausen auf den vier Hauptgleisen sich übergreifen. Schienenfreie Gleisverbindungen von der einen zur anderen Bahnhofseite sind so kostspielig, daß man sie jedenfalls nur auf größeren Bahnhöfen anwenden wird. Tut man dies, so kann man Verschubkreuzungen[429] auf den Zwischenbahnhöfen vermeiden, indem man diese nur durch die Züge der einen Fahrrichtung bedienen läßt, was jedoch für einen Teil der Güterwagen streckenweise Doppelläufe bedingt. Für diesen Fall der Verkehrsverteilung ist deshalb der Linienbetrieb vorzuziehen, wobei es nicht ausgeschlossen ist, das Gütergleispaar streckenweise, je nach Lage der Ortsgüterbahnhöfe, auf die eine oder andere Seite des Personengleispaars zu legen, indem der Lagenwechsel an geeigneten Stellen durch Gleisüberwerfung bewirkt wird. So zeigt die Berliner Ringbahn einen zweimaligen Wechsel der gegenseitigen Lage des Personengleispaares und des Gütergleispaares. Die einseitige Lage eines neu zu erbauenden Gütergleispaares ermöglicht es übrigens auch, dieses Gleispaar streckenweise unabhängig von dem vorhandenen Personengleispaar zu führen und so Engpässe, die durch Geländebeschaffenheit oder Bebauung gebildet werden, zu umgehen.

4. Vier Ferngleise, ein Gleispaar für Schnellfahrt, eines für Langsamfahrt. Statt die Benutzung der beiden Gleispaare einer viergleisigen Fernbahn nach Personen- und Güterverkehr zu sondern, kann man dies auch nach der Schnelligkeit der Züge tun. Dem einen Gleispaar weist man dann die Schnell- und Eilzüge, die Eilgüterzüge und Ferngüterzüge, unter Umständen auch die Durchgangsgüterzüge zu, dem anderen die Personenzüge und die sonstigen Güterzüge. Unter schnellfahrenden Zügen sind hiernach also nicht nur diejenigen zu verstehen, die die größte Fahrgeschwindigkeit aufweisen, sondern auch diejenigen, die längere Strecken ohne Halt durchfahren, und für die es deshalb erwünscht ist, sie nicht durch andere Züge aufhalten zu lassen. Eine solche Verkehrsverteilung ergibt bisweilen die größte Gesamtleistungsfähigkeit einer viergleisigen Bahn. Denn wenn auch das Schnellgleispaar hierbei leicht eine viel geringere Zugzahl aufweisen wird als das Langsamgleispaar, so gestattet dafür auf dem anderen Gleispaar das Fehlen von Schnellzügen eine sehr viel dichtere Belegung mit Personen- und Güterzügen. Ferner aber erzielt man so den Vorteil, daß die Schnellzüge glatt durchgeführt werden. Für den Fall solcher Verkehrsverteilung hat neuerdings namentlich Dr.-Ing. Schroeder den Richtungsbetrieb derart empfohlen, daß das Schnellgleispaar in die Mitte gelegt wird. Dabei soll die Möglichkeit geschaffen werden, die das mittlere Gleispaar benutzenden Züge geringerer Fahrgeschwindigkeit auf der Strecke (also in voller Fahrt) überholen zu lassen, indem die langsamer fahrenden Züge mittels auf den Bahnhöfen angelegter Weichen streckenweise auf die äußeren Gleise abgelenkt werden. Falls man gegen solche Betriebsweise aus Gründen der Regelmäßigkeit und Sicherheit des Betriebes kein Bedenken hat, so haften der ganzen Anlage doch hinsichtlich des Ortsgüterverkehrs dieselben Nachteile an wie der unter 3. besprochenen. Daher dürfte doch der Linienbetrieb (unter Verzicht auf die bequeme Ueberholungsmöglichkeit) den Vorzug verdienen, wie denn auch die preußischen Staatsbahnen bei viergleisigem Ausbau von Fernbahnen regelmäßig Linienbetrieb gewählt haben.

5. Sechs- und mehrgleisige Bahnen sind nur in wenigen Fällen und im allgemeinen auf kurze Strecken, von großen Bahnhöfen ausgehend, ausgeführt worden. Wenn von sechs Gleisen je zwei dem Nahverkehr, dem Fernpersonenverkehr und dem Güterverkehr dienen, wird man die beiden Gütergleise nach obigen Ausführungen jedenfalls zweckmäßig auf eine Seite legen, während die Nah- und Fernpersonengleise, je nach dem Ergebnis der Erwägungen, Linienbetrieb oder Richtungsbetrieb erhalten können. Eine achtgleisige Strecke auf längere Entfernung ist [5] bei der Illinois-Zentralbahn in Chicago ausgeführt worden. Vier Gleispaare im Linienbetrieb dienen gewöhnlichen Vorortzügen, Fernpersonenzügen, Güterzügen, Vorortschnellzügen.

6. Im allgemeinen kann man sagen, daß für mehrgleisige Bahnen der Richtungsbetrieb sich für Strecken empfiehlt, die gleichen und ähnlichen Verkehrszwecken dienen [2]. Unbedingt angezeigt ist er bei Betriebsweise 1, bei Betriebsweise 2 nur in besonderen Fällen empfehlenswert, bei den Betriebsweisen 3 und 4 dagegen zu widerraten. In der Mehrzahl der Fälle wird hiernach der Linienbetrieb den Vorzug erhalten. Der Umbau einer zweigleisigen Bahn in eine viergleisige wird übrigens bei Wahl des Linienbetriebes in der Regel weniger Schwierigkeiten und Kosten verursachen.


Literatur: [1] A. Blum, Organ f. d. Fortschr. d. Eisenbahnw. 1898, S. 120. – [2] O. Blum, Eisenbahntechnik d. Gegenw., II, 3, 2. Aufl., 1909, S. 470 ff. – [3] Blum u. Giese, Der Betrieb auf zwei- und mehrgleisigen Strecken der nordamerikanischen Eisenbahnen, Zentralbl. Bauverw. 1906, S. 4. – [4] Cauer, Personenbahnhöfe, Berlin 1913, S. 92. – [5] Giese, Mehrgleisige Strecken, in Roll, Enzykl. d. Eisenbahnw., 2, Aufl. – [6] Kecker, Organ f. d. Fortschr. d. Eisenbahnw. 1898, S. 13–37. – [7] Oder, Große Personenbahnhöfe und Bahnhofsanlagen, Handb. d. Ing.-Wissensch., 5. Teil, IV, 2, S. 87, 140, 199. – [8] Schroeder, Die viergleisige Eisenbahn, Verkehrstechnische Woche 1915, S, 245.

Cauer.

Fig. 1.
Fig. 1.
Fig. 2.
Fig. 2.
1Ebenso wie zwei ein Stück weit nebeneinander herlaufende eingleisige Eisenbahnen den Anschein einer zweigleisigen Bahn gewähren können.
2Es gibt auch Grenzfälle, in denen man Zweifelhaft sein kann, ob eine mehrgleisige Eisenbahn oder ein Nebeneinander zwei- bezw. eingleisiger Bahnen vorliegt.

http://www.zeno.org/Lueger-1904.

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