Dynamismus

Dynamismus

Dynamismus, Bezeichnung für eine naturphilosophische Theorie.

Schon bis in das graue Altertum geht der Gegensatz zwischen atomistischer und dynamischer Naturauffassung zurück; die erstere unterscheidet grundsätzlich zwischen den eine Kategorie für sich bildenden Kräften und dem aus kleinsten gleichartigen Elementarteilchen sich zusammensetzenden Stoffe, während die Dynamiker die Kraft als die notwendige Vorbedingung der Existenz der Materie betrachten. Im 17. Jahrhundert begründeten Descartes und Leibniz die in Rede stehenden Systeme in strengerer Weise, und zwar führte der deutsche Philosoph alle Erscheinungen sowohl der sinnenfälligen als auch der geistigen Welt auf seine »Monaden«, einfache und der Ausdehnung entbehrende »Substanzen«, zurück [1]. In rigoros bestimmter Form begründete Kant die dynamische Hypothese, indem er eine lückenlose Erfüllung des Raumes durch die Materie lehrte und dieser gewisse repulsive Kräfte beilegte, kraft deren aber jene vollständige Beseitigung leerer Räume erzielt werden sollte [2]. Die Naturphilosophen der Folgezeit neigten im allgemeinen mehr der dynamischen als der mechanistischen Anschauung zu, wogegen die ausübenden Naturforscher, weil erstere sowohl der mathematischen Einkleidung wie auch der begrifflichen Erfassung der Probleme widerstrebt, durchweg Atomistiker waren. Daß sie dazu auch nach den Prinzipien des Kantschen Phänomenalismus wohlberechtigt waren, haben Fechner [3] und Laßwitz [4] dargetan. In der Tat konnten auch diejenigen Physiker, welche die Korpuskularphilosophie in der ihr von Cartesius oder Gassendi erteilten Gestalt verwarfen, sich der Annahme gewisser Kompromißvorstellungen nicht gänzlich entziehen. Schon Boscovich verwandelte die Leibnizschen Monaden in Kraftzentren [5], und auf den gleichen Boden sind, worüber man sich am besten durch die Lektüre der Zöllnerschen Schriften unterrichtet [6], Faraday, W. Weber und Zöllner getreten.

Die Auffindung des großen Grundgesetzes der Natur durch R. Mayer, Helmholtz und Joule hat den Gegnern der Atomistik einen neuen Ansporn verliehen. Nunmehr erschien der Begriff der Energie als der fundamentale, auf den Kraft und Stoff gleichmäßig zurückgeführt werden müssen, und so trat an die Stelle des Dynamismus die einer weit exakteren Formulierung fähige Energetik. Deren Begründung hat sich besonders der bekannte Physikochemiker W. Ostwald angelegen sein lassen [7]. Gleichwohl ist auch jetzt noch, sowie es sich um die Lösung konkreter Aufgaben handelt, die atomistische Doktrin nicht überflüssig gemacht worden, und die Bedeutung auch der energetischen Umwandlung der alten dynamischen Lehren ist einstweilen mehr darin zu suchen, daß durch sie ein neues Ferment in die Erörterung der grundsätzlichen Fragen hineingetragen ward.


Literatur: [1] Allgemeine Enzyklopädie der Physik, Bd. 1 (Beiträge von F. Harms und G. Karsten), Leipzig 1869, S. 54 ff., S. 813 ff. – [2] Kant, I., Metaphysische Anfangsgründe d. Naturwissenschaft, Riga 1787. – [3] Fechner, Physikalische und philosophische Atomenlehre, Leipzig 1864 (2. Aufl.). – [4] Laßwitz, Atomistik und Kritizismus, Braunschweig 1878. – [5] Boscovich, Philosophiae naturalis theoria, redacta ad unicam legem virium in natura existentem, Venedig 1758. – [6] Zöllner, Wissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 1–4, Leipzig 1878–81. – [7] Ostwald, Die Ueberwindung des wissenschaftlichen Materialismus, Verhandl. d. 67. Deutschen Naturforscherversammlung, Leipzig 1895, 1. Teil, S. 155 ff; Abhandlungen und Vorträge allgemeinen Inhaltes (1887–1903), Leipzig 1904.

Günther.


http://www.zeno.org/Lueger-1904.

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