- Kehrichtverbrennung
Kehrichtverbrennung (Müllverbrennung) wurde zuerst in Amerika und England vorgenommen. Schon in den siebziger Jahren entstanden in England Kehrichtverbrennungsanlagen (Paddington-London 1870, Manchester 1877); bis 1893 waren in England 72 Verbrennungsanlagen in 55 Städten im Betrieb [1], S. 4; Verbreitung fanden hauptsächlich die Fryerschen Oefen, ferner der Warner- und der Horsfall-Ofen. Abgesehen von einigen Verbrennungsanstalten, welche mit dem Hauskehricht Fäkalien und Kanalschlamm mischen und das Gemenge verbrennen (in Ealing), beschränken sich die meiden Anlagen auf die Verbrennung des Hauskehrichts und dazwischenhinein der Abgänge von Märkten, aus Warenlagern, Läden, in Hafenplätzen auch der Abgänge aus den Auswandererschiffen u.s.w.
Ein Zusatz irgend welchen Brennmaterials findet in England nicht statt. Der Kehricht brennt durch sich selbst. In die Oefen gelangt der Kehricht, wie er aus den Häusern kommt, sortiert wird nichts, höchstens werden größere Stücke, z.B. Faßreifen, Blechkanister und andre große Gegenstände ausgelesen. Erfahrungsgemäß lieferte der englische Kehricht beim Verbrennen etwa 30% an Schlacken, eine Zahl, die aber immerhin sehr wechseln kann, je nach den Einwohnern und der Lebenshaltung in den Städten. Die Leistungen der einzelnen Oefen schwanken nach den Angaben der englischen Ingenieure bedeutend. Die Menge Kehricht, welche binnen 24 Stunden in einer Ofenzelle verbrannt werden kann, schwankt zwischen 4 bis 10 t, im Mittel leistete der Horsfall-Ofen 61/2 t, der Warner-Ofen bis zu 8 t. Wird Kanalschlamm mitverbrannt (wie z.B. in Ealing) so sinkt die Leistung auf ca. 41/2 t. Die Menge der Verbrennungsrückstände gibt Warner zwischen 15 bis 50% an. Die in den Oefen herrschenden Temperaturen sind sehr auseinandergehend. Codrington hat in 8 Fryer-Ofenzellen in Whitechapel 120538° C, im Mittel 254° C., gefunden; bei nahezu abgebranntem Feuer zeigte die Temperatur 143149° C. Bei dem zum Hauptfuchs führenden Feuerzug zeigte das Pyrometer eine mittlere Temperatur von 210282° C. Höhere Temperaturen liefern die mit Gebläse arbeitenden Oefen, 655° C. (kirschrot glühend), bis 725° C. (hellrot glühend). Zahlreiche englische Ofensysteme sind in [1] abgebildet, worauf wir verweisen.
Die erste Kehrichtverbrennungsanlage in Deutschland hat man in Hamburg errichtet; sie ist von A. Meyer den englischen Anstalten nachgebildet [2]. 1895 waren 6 Oefen im Betrieb, 1896 weitere 30. Man hat in Hamburg den etwas abgeänderten Horsfall-Ofen gewählt. Die einzelnen Ofenzellen stehen mit den Rücken gegeneinander zur Vermeidung von Wärmeverlusten. Die Einfüllöffnung, gemeinschaftlich für zwei gegeneinander liegende Zellen, befindet sich oben auf der Plattform. Der Kehricht rutscht von da aus auf eine Rostfläche, wo er verbrannt wird. Zur Aufrechterhaltung der Verbrennung wird Unterwind angewendet, und zwar entweder durch Dampfgebläse oder, wie in Hamburg durch mittels Ventilation bewegte Luft. Die Rostfläche pro Ofenzelle beträgt in Hamburg 3,4 qm, Leistung ca. 7,2 t Kehricht in 24 Stunden. Jede Zelle hat zwei Schlackentüren, und alle 11/2 Stunden wird geschlackt, und ebenso etwa alle 11/2 Stunden wird jede Zelle mit Kehricht neu beschickt. Ein Arbeiter bedient in Hamburg 6 Oefen oben bei der Füllung und ein Arbeiter 3 Oefen unten beim Schlacken. In neueren Anstalten fällt das Beschicken von Hand weg (Cöln, Wiesbaden). Es geschieht da durch Fülltrichter mit Schiebern, so daß der Arbeiter mit dem Kehricht nicht in Berührung kommt. Die geschlossenen, vom Radgestell abnehmbaren Kehrichtwagen werden mit elektrischem Laufkran gehoben und über die Plattform oder über den Fülltrichter mittels elektrischer Windevorrichtung entleert.
Wie schon erwähnt, brennt in der Regel der Kehricht nicht nur allein, sondern er entwickelt mehr Wärme als zur Erzeugung der zum Betrieb der Dampfkessel, Dampfmaschinen, Elektromotoren nötigen Kraft gebraucht wird. Die überschüssige Kraft bildet neben dem Erlös für die Schlacken eine Einnahmequelle der Verbrennungsanstalten. Mit den Verbrennungsgasen heizt man Dampfkessel, welche hinter den Oefen oder, wie bei den Ofenanlagen von Manlove, Alliot & Cie., zwischen den Ofenzellen angeordnet sind. Schieber ermöglichen die Verteilung der Heizgase, so daß man die einzelnen Dampfkessel ausschalten kann. In den Rauchkanal sind Notfeuerungen eingebaut, um, wenn es sein muß, auch ohne Kehrichtverbrennung die Kessel unter Dampf halten zu können. In Deutschland sind diese ganzen Verhältnisse der Kehrichtverbrennung hauptsächlich in der Hamburger Anlage studiert worden. Die größte Erfahrung hat Hamburg; allein auch die Städte Essen, Stuttgart, Berlin, München, Dortmund, Elberfeld, Cöln, Posen, Kassel und Wiesbaden haben in Hamburg versuchsweise ihren Kehricht verbrennen lassen.[425] Auf Grund der gewonnenen Erfahrungen wird angenommen, daß 1 kg Kehricht 0,75 kg Dampf erzeugt. Während man in Hamburg den abgeänderten Horsfall-Ofen benutzt, wählte man in Wiesbaden den Dörrschen Ofen, welcher im Gegensatz zu den niedrigen englischen Rostöfen einem Hochofen ähnlich konstruiert ist, wobei Eisenteile im Feuerraum selbst vermieden sind [3]. In Dörrschen Oefen findet ein ununterbrochener Dauerbetrieb statt, während bei den andern Oefen der Verbrennungsprozeß während des Schlackenziehens mehr oder weniger unterbrochen ist. Der Kehricht gelangt bei der Dörrschen Einrichtung in üblicher Weise zunächst auf den Ofen und von da in den Verbrennungsschacht, rutscht dann allmählich tiefer, gelangt so von selbst in immer heißere Schichten, um schließlich im Brandherd selbst verbrannt und weiter unten auf der Schlackenbrücke als Schlacke entfernt zu werden, deren Wärme für die von unten in den Verbrennungsschacht einströmende Gebläseluft nach Möglichkeit noch ausgenutzt wird. Laut Wiesbadener Betriebsberichten herrschen in den Oefen Temperaturen von 10001500°; die mittlere Temperatur im Fuchse beträgt bei Dauerbetrieb 9501000°. Die Verdampfung ist eine 2/33/4fache. Der Kohlensäuregehalt der Verbrennungsgase beträgt 1214 Vol.-Proz. gegen 48 Vol.-Proz. bei den sonstigen Oefen. Wie in [4] ausgeführt ist, beträgt die tägliche Leistung eines solchen Ofens 1618 t Kehricht gegenüber 58 t der englischen Oefen.
Die Schlacken werden zur Straßenbefestigung, zu Beton und in Hamburg auch als Ersatz von Koks zur Füllung von Kläranlagen nach dem sogenannten biologischen Verfahren verwendet. Die Wärme wird, wie eingangs schon erwähnt, verwertet. In Wiesbaden beträgt das Anlagekapital 400000 ℳ. Die Anstalt ist seit 1906 im Betrieb. Schätzungsweise sind für 1 t verbrannten Kehricht 1,752 ℳ. Personalkosten, an sonstigen Unkosten (ohne die Kosten für Wasser, Oel und Putzstoffe) 0,40,5 ℳ. erforderlich. Der Erlös aus Schlacken, Eisen, Asche wird zu 0,50,6 ℳ., derjenige für elektrische Energie für 2,50 ℳ. für 1 t verbrannten Kehrichts gerechnet, bei einem Preise von 45 . für die Kilowattstunde. Aufzubringender Aufwand einschließlich Verzinsung und Amortisation des Anlagekapitals u.s.w. ca. 1,11,3 ℳ. für jede Tonne des verbrannten Kehrichts, ein Betrag, den die Stadt Wiesbaden seither als Sortierungskosten auch hat aufwenden müssen.
Der Vollständigkeit halber verweisen wir noch auf zwei andre Methoden der Kehrichtbeseitigung, nämlich auf das Schneidersche Schmelzverfahren und auf die Vergasung (Entgasung). Das erstere Verfahren verfolgt den Zweck, den Kehricht durch Zugabe von Kohlen und eventuell andern Zuschlägen, wie Kalk, in geeigneten Schmelzöfen bei sehr hoher Temperatur zu verbrennen, die Rückstände zu schmelzen und sie in geeignete Formen zu gießen. Nach den Angaben Schneiders sollen nur etwa 10% Rückstand als ein lavaähnliches Material verbleiben, das in Form von Steinen, Ziegeln oder Blöcken als ein gutes, wasser- und witterungsbeständiges Material leicht verkäuflich ist und zu Bauzwecken verwendet werden soll. Die in Berlin mit einem solchen Kehrichtschmelzofen in größerem Umfang und mit dem Kehricht von verschiedenen Städten vorgenommenen Versuche ermunterten übrigens nicht zur Aufnahme des Verfahrens durch die betreffenden Stadtverwaltungen [5]. Die Kehrichtvergasung wurde von Ottermann & Cie. in Wien aufgenommen. Nach deren System wird der Kehricht mit Kohle gemischt, in Retorten, wie man sie in den Gasfabriken benutzt, vergast, das Gas wie das Steinkohlengas gereinigt und als Heiz- und Motorengas und zu Beleuchtungszwecken gebraucht. Im letzteren Falle müßte es karburiert (s. Leuchtgas) werden, da es eigne Leuchtkraft nicht besitzt. Nach den Wiener Versuchen soll 1 kg Kehricht 75 l gereinigtes Gas geben, mit einem Heizwert von ca. 3000 W.E. pro Kubikmeter. Verfasser [6] hat im Stuttgarter Gaswerk ebenfalls eine größere Versuchsreihe vorgenommen und für den Stuttgarter Kehricht gefunden, daß die Gasausbeute in weiten Grenzen schwankt, daß das Gas sehr stark kohlensäurehaltig ist, einen Heizwert von ca. 2800 W.E. pro 1 cbm hat, und daß es nur mit schwachgelblicher Flamme brennt. Nachteile dieses Systems sind höhere Anlagekosten (Retortenöfen, Gasreinigungsapparate, Gasbehälter), größere Betriebskosten wegen der Unterfeuerung (Koks) und die Massen von schlecht zu verwertenden Rückständen, insbesondere aus den Reinigungsapparaten, da man wegen des großen Kohlensäuregehaltes (1726 Vol.-Proz.) die aus den Gaswerken verschwundene Kalkreinigung in früherer Zeit in größerem Maßstab wieder aufnehmen müßte.
Gegenüber der früher auch in großen Städten üblichen Anhäufung des Kehrichts auf Lagerplätzen bedeutet die Kehrichtverbrennung einen hygienischen Fortschritt, und dieselbe gewinnt in neuester Zeit eine immer größer werdende Verbreitung. Die Ergebnisse Asche, Schlacken u.s.w. sind selbstverständlich hygienisch einwandfrei. Der Kehricht verbrennt um so vollkommener, je mehr demselben brennbare Stoffe, wie Holzstücke, Steinkohlenabfälle u. dergl., beigemischt sind; daher gestalten sich die Verhältnisse am günstigsten in jenen Städten, in welchen man die Stubenöfen u.s.w. vorzugsweise mit Steinkohlen heizt (vgl. [1], [2], [7]). Weniger günstig liegen die Verhältnisse dort, wo hauptsächlich Braunkohlenbriketts, Torf u. dergl., die viel Asche und wenig unverbranntes Material als Abfall liefern, zu den Ofenheizungen verwendet werden. Diese Asche wirkt nachteilig, weil sie selbst unverbrennlich ist und die Verbrennung der von ihr eingehüllten, sonst brennbaren Bestandteile des Kehrichts verhindert (vgl. [8], S. 52 und 129). Verschiedene Städte hatten deshalb auch bei den in Hamburg angestellten Probeversuchen mit ihrem Kehricht Mißerfolg. Absieben des Kehrichts und Kohlenzusatz ermöglichen die Verbrennung, erhöhen aber selbstverständlich die Kosten. Auf dem Lande findet die Kehrichtverbrennung keinen Eingang.
Vgl. a. Abfallstoffe, Mülltransport und Massentransport.
Literatur: [1] Böhm und Grohn, Ueber die Müllverbrennung in England, Berlin 1894 (mit ausführlichem Verzeichnis der älteren englischen Literatur und Zeichnungen von Oefen). [2] Meyer, A., Die städtische Verbrennungsanstalt für Abfallstoffe von Bullerdeich in Hamburg, 1899. [3] Koepper, G., Die Entwicklung der Müllverbrennung und der Dörrschen Oefen zur Verbrennung von Hausmüll und Straßenkehricht, Dresden 1906. [4] Denkschrift der Stadt Wiesbaden, 1906. [5] Kapf, S., Die Beseitigung des städtischen Mülls, Aachen 1905. [426] [6] Bujard, Dingl. Polyt. Journ. 1900, Bd. 315. [7] Leurs, M.J., La nouvelle usine des immondices de la ville Bruxelles, Gesundheitsingenieur 1906, S. 537. [8] Böhm und Grohn, Die Müllverbrennungsversuche in Berlin, 1897. Vgl. a. Weyls Handbuch der Hygiene, Jena 1894, Bd. 2, 2. Abt., S. 205; Büsing, Städtereinigung, Stuttgart 1897.
Bujard.
http://www.zeno.org/Lueger-1904.