Gesetz [2]

Gesetz [2]

Gesetz (Naturgesetz). Da alle unsre Naturgesetze durch die Erfahrung gewonnen und aus ihr abgeleitet sind, gelten sie im allgemeinen nur innerhalb des Bereichs, innerhalb dessen sie durch die Erfahrung bestätigt worden sind und fortwährend bestätigt werden. Ihre Gültigkeit kann auch durch neue, mit ihnen im Widerspruch stehende Erfahrungen erschüttert, sogar ganz umgestoßen werden. Von absoluten, für alle Ewigkeit gültigen Gesetzen dürfen wir daher – streng genommen – nicht reden, da wir die zukünftigen Erfahrungen nicht voraussehen können.

Gerade jetzt befinden sich die Naturwissenschaften in einer überaus wichtigen Krisis. An ihren Grundlagen – so vor allen Dingen an dem bisher als unantastbar betrachteten Prinzipe der Konstanz der Masse – rüttelt das Lorentz-Einsteinsche Relativitätsprinzip. – »H.A. Lorentz hat das Relativitätstheorem gefunden und das Relativitätspostulat geschaffen als eine Hypothese, daß Elektronen und Materie infolge von Bewegung Kontraktionen nach einem gewissen Gesetze erfahren. – A. Einstein hat es bisher am schärfsten zum Ausdruck gebracht, daß dieses Postulat nicht eine künstliche Hypothese ist, sondern vielmehr eine durch die Erscheinungen sich aufdrängende neuartige Auffassung des Zeitbegriffs.« (H. Minkowski.) Eine höchst gründliche mathematische Behandlung des neuen Prinzips verdanken wir Hermann Minkowski. – Versuche von Fizeau haben ergeben, daß die Fortpflanzungsgeschwindigkeit des Lichts in Gasen, die in derselben oder in entgegengesetzter Richtung strömen, von der Geschwindigkeit der Strömung ganz unabhängig ist, daß also die relative Geschwindigkeit des Lichts gegen das Gas im Falle der Uebereinstimmung und im Falle der Entgegengesetztheit beider Bewegungsrichtungen um das Doppelte der Strömungsgeschwindigkeit verschieden ist. Da nun jeder irdische Beobachter sich innerhalb eines strömenden Gases – der sich mit der Erde bewegenden Atmosphäre – befindet, müßte sich der Einfluß der Erdbewegung an allen optischen und elektrischen Erscheinungen, die ja alle auf Wellenbewegungen des Aethers beruhen, feststellen lassen. Das aber ist nach sehr genauen Untersuchungen von Michelson und Morley nicht der Fall. Diesen Widerspruch beseitigt das genannte Prinzip. Auf keine Weise kann der mitbewegte Beobachter seine eigne Bewegung feststellen. Wenn dennoch der nicht mitbewegte Beobachter einen Einfluß der Bewegung feststellen zu können glaubt, den der mitbewegte Beobachter selbst nicht wahrnimmt, »so liegt das nur daran, daß beide Beobachter mit verschiedenen Maßen messen, daß es verschiedene Dinge sind, die sie als identische Zeichen, gleiche Zeitintervalle und Längen ansprechen«. (Emil Cohn.)

[320] Durch eine überaus scharfsinnige Untersuchung der Art und Weise des Messens von Längen und Zeiten hat Einstein gezeigt, daß die Geschwindigkeit des Lichts bei großen Geschwindigkeiten der bewegten Körper eine bedeutungsvolle, bisher ganz übersehene Rolle spielt. Für die relative Bewegung der Erde gegen die Sonne ergibt sich, daß ein Erdbewohner und ein gedachter Sonnenbewohner verschiedenes Längen- und Zeitmaß haben, ohne daß ihnen selbst diese Verschiedenheit zum Bewußtsein kommt. Es folgt ferner, daß die Gestalt eines beobachteten Körpers von der Bewegung des Beobachters abhängig, also nichts Absolutes ist. Ein Körper, der, mit der Sonne verbunden und von ihr aus gemessen, sich als Kugel ergibt, ist für unsre Beobachtung ein in der Richtung der Erdbewegung abgeplattetes Ellipsoid. Ist ein Körper in ruhendem Zustande kugelförmig, so geht er, wenn er in einer gewissen Richtung bewegt wird, für den ruhenden Beobachter in ein in eben dieser Richtung abgeplattetes Ellipsoid über. Wächst seine Geschwindigkeit bis zu der des Lichts, so klappt er zu einer Ebene zusammen. Der Begriff des starren Körpers wird relativ. Selbst die Konstanz der Masse ist nicht mehr aufrechtzuerhalten. Die Masse wächst mit der Geschwindigkeit des bewegten Körpers, und zwar nimmt sie nach Einstein um einen Betrag zu, den man erhält, wenn man den Energiegehalt des bewegten Körpers durch das Quadrat der Geschwindigkeit des Lichts dividiert. Durch Beobachtungen von Bucherer an Radiumstrahlen, von Hupka an Kathodenstrahlen wurde die dem Relativitätsprinzipe entsprechende Veränderlichkeit der Masse der Elektronen nachgewiesen. – Daß wir die Gestalt eines Körpers bisher für etwas Absolutes hielten, erklärt sich nunmehr einfach daraus, daß die gewöhnlich vorkommenden Geschwindigkeiten bewegter Körper, mit der des Lichts verglichen, unendlich klein sind. – Ob der zweite Grundpfeiler der heutigen Naturwissenschaft, die Konstanz der Energie, sich für alle Zukunft wird halten lassen, kann man heute noch nicht sagen. Bei allen diesen Dingen handelt es sich schließlich um Vorstellungsformen, zu denen wir durch gewisse Beobachtungen gekommen und an die wir uns gewöhnt haben, von denen wir aber nicht mit Sicherheit behaupten können, daß sie absolut gültige Naturgesetze sind. – Ganz allgemein dürfen wir sagen, daß sich ein solches »Gesetz« durch Beobachtungen überhaupt nicht streng beweisen läßt. Jede Messung ist mit einem unvermeidlichen Fehler, dem »Beobachtungsfehler«, behaftet, hinter dem sich eine wirkliche Abweichung von dem vermuteten Gesetze verstecken kann. Wenn wir aber von vornherein annehmen, daß die gefundene Abweichung ganz und gar auf Rechnung einer unvermeidlichen Ungenauigkeit der Beobachtung zu setzen sei, so setzen wir eben voraus, was wir beweisen wollten.


Literatur zur Relativitätstheorie: [1] H.A. Lorentz, Elektromagnetische Vorgänge in ponderablen Körpern; Enzyklopädie d. mathem. Wissensch., V 2, Art. 14, Abschn. IV. – [2] Ders., Ueber die Grundgleichungen der Elektrodynamik für bewegte Körper; Wiedemanns Annalen, Bd. 41, 1890, auch in »Gesammelten Werken«, Bd. I, Leipzig 1892. – [3] A. Einstein, Zur Elektrodynamik bewegter Körper; Ann. d. Phys., 4. Folge, Bd. 17,1905. – [4] Ders., Die Relativitätstheorie; Vierteljahrsschr. d. naturf. Ges. in Zürich, 56. Jahrg. 1911, 1. u. 2. Heft. – [5] Emil Cohn, Physik. über Raum und Zeit; Leipzig u. Berlin 1911. – [6] H. Minkowski, Gesamm. Abhandl. unter Mitw. von Andr. Speiser u. Herrn. Weyl herausgegeb. von David Hilpert, 2 Bde., Leipzig u. Berlin 1911. [2. Bd. XXX, Die Grundgleichungen für die elektromagnetischen Vorgänge in bewegten Körpern. (Nachr. d. K. Gesellsch. d. Wissensch. zu Göttingen, mathem.-physik. Kl., 1908.) XXXI, Eine Ableitung der Grundgleichungen für die elektromagnetischen Vorgänge in bewegten Körpern vom Standpunkte der Elektronentheorie. (Aus dem Nachlasse von H. Minkowski bearbeitet von Max Born, Mathem. Ann., Bd. 68, 1910.) XXXII, »Raum und Zeit.« (Physik. Zeitschr., 10. Jahrg. 1909, und Jahresbericht der deutschen Mathematiker-Vereinigung 1909.)] – [7] A. Einstein, Zwei Abhandlungen über die Grundgleichungen der Elektrodynamik, Leipzig u. Berlin 1910 (Fortschr. d. mathem. Wiss. in Monographien, herausgeg. von O. Blumenthal, Heft 1). – [8] Albert Einstein und Marcel Großmann, Entwurf einer verallgemeinerten Relativitätstheorie und einer Theorie der Gravitation, Leipzig und Berlin 1913.

F. Meisel.


http://www.zeno.org/Lueger-1904.

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