Gesetz [1]

Gesetz [1]

Gesetz (Naturgesetz). Die denkende Vergleichung der Naturveränderungen läßt in denselben Regelmäßigkeiten erkennen ähnlich dem durch Gesetze geregelten Handeln der Menschen, Regelmäßigkeiten, die teilweise von diesem durch eine absolute Unverbrüchlichkeit sich unterscheiden, die allgemeinen Naturgesetze. Ein andrer Teil scheint Ausnahmen und Abweichungen unterworfen zu sein und trägt mehr den Charakter von Regeln, das sind die Gesetze der Lebenserscheinungen der organischen Natur.

Das religiöse Bewußtsein setzt ein höchstes, freies Subjekt der gesetzmäßigen Veränderungen der Natur, das sich selbst Gesetzgeber ist, die Gottheit; die Naturwissenschaft hat nur die Aufgabe der Erforschung der Naturgesetze, denn auf ihrer Kenntnis beruht die Möglichkeit fortschreitender Herrschaft des Menschen über die Natur, sowohl der intellektuellen Herrschaft bewußter Kenntnis der Naturerscheinungen und der Voraussicht kommender Naturereignisse als der tätigen Herrschaft der Dienstbarmachung der Naturveränderungen für die Zwecke des Menschen. Die menschliche Tätigkeit, welche die Naturprodukte verarbeitet und die Naturveränderungen zweckmäßig auslöst und leitet, heißt Technik, sie hat die Kenntnis der Naturgesetze zu ihrer Voraussetzung.

Das Naturgesetz bewirkt eine doppelte Ordnung, die objektive der Naturerscheinungen und die subjektive unsers Wissens von der Natur, denn im Gesetz ist der Erkenntnis die Möglichkeit geboten, eine unendliche Zahl von Einzelerscheinungen zu umspannen. Es ist aber das letztere Merkmal, die gesetzmäßige Anordnung und Unterordnung unsrer Vorstellungen unter ein gemeinsames Prinzip zum Zweck der »Oekonomie des Denkens«, nicht hinreichend zum Begriff des Naturgesetzes. Zum Beispiel das Gesetz unsers dekadischen Zahlensystems, das uns in einfacher Form Nomenklatur und Schriftzeichen für beliebig viele Zahlengrößen liefert, ist kein Naturgesetz. Im Gegenteil befiehl das Naturgesetz objektiv, unabhängig vom menschlichen[444] Denken, und Galileis Fallgesetz bestand, ehe der menschliche Geist in diesem Gesetze eine unendliche Anzahl von Einzelbewegungen fallender Körper umfaßte.

Der Mensch gelangt zur Erkenntnis der Naturgesetze in erster Linie auf dem Wege der Erfahrung durch Vergleichung und Beurteilung seiner aus der Naturbeobachtung und aus dem Experiment gewonnenen Vorstellungen, in zweiter Linie auf dem Wege logischer Verknüpfung und Zergliederung gefundener Gesetze. Unter den zur logischen Verarbeitung gefundener Gesetze beigezogenen Gesetzen sind besonders wichtig die Gesetze der Größenlehre, der Mathematik. Auch die Grundlagen dieser Gesetze, die mathematischen Axiome samt dem Größenbegriff und der Raumvorstellung, sind nicht durch »apriorische« Veranlagung des Geistes gegeben, sondern werden aus der Erfahrung gewonnen. Es ist die Folge der Einfachheit der mathematischen Begriffe, in welchen aus der Vorstellung der räumlichen und zeitlichen Erscheinungen nur ein einziges oder wenige Merkmale festgehalten werden, daß die Bestätigung der Axiome sich durch alltägliche Erfahrung und durch jederzeit anzustellende Gedankenexperimente parat stellt, so daß dadurch die Axiome zu scheinbar apriorischer Gewißheit erhoben werden. Diese Zweifellose Gewißheit ihrer Grundlagen, verbunden mit der begrifflichen Einfachheit, stempelt die mathematischen Gesetze zu »Idealgesetzen« der Natur im Unterschiede von den »Realgesetzen«, die je nach der Häufigkeit und Genauigkeit der Beobachtung als mehr oder weniger wahrscheinliche Hypothesen ohne absolute Gewißheit und erwiesene exakte Genauigkeit erscheinen.

Unter den Realgesetzen der Himmelsmechanik und der Physik unterscheidet man häufig eine mehrfache Art der Fassung desselben Gesetzes. Die Beobachtung nämlich liefert immer Beziehungen zwischen endlichen Raum- und Zeitgrößen und führt daher zunächst zu sogenannten Integralgesetzen, die mathematische Analyse leitet daraus Beziehungen zwischen verschwindend kleinen Größen, den Differentialen der Massen, Wege, Zeiten u.s.w., ab, die Differentialgesetze, die sich durch eine besondere Einfachheit der Form, größeren Umfang, dabei mehr hypothetischen Charakter von jenen unterscheiden. (Die Keplerschen Gesetze sind Integralgesetze, das Newtonsche Gravitationsgesetz ist das entsprechende Differentialgesetz.)

Unter den Naturgesetzen ist als allgemeinstes Axiom der Identitätssatz oder der Kausalitätssatz zu nennen; er enthält das Axiom, daß es im Wechsel der Veränderung Beharrliches gebe. Das Selbstbewußtsein, das sich der Identität des denkenden Subjekts bewußt ist, ist seine erste Aeußerung, die Annahme unzerstörbarer Substanzen die zweite, die Voraussetzung immer und überall gleichbleibender Beziehungen zwischen den der Veränderung unterworfenen Größen eine dritte Form des Satzes. Unter dem Gesichtspunkt der zeitlichen Aufeinanderfolge erscheinen die durch die Identität verknüpften Erscheinungen im Verhältnis von Ursache und Wirkung. Das R. Mayersche »causa aequat effectum« läßt den Identitätssatz als den Kern des Kausalitätssatzes erkennen. Dieser Satz bildet nur die inhaltlose Form aller Naturgesetze, die sich auf zeitliche Veränderungen beziehen.

Unter den Realgesetzen steht obenan der Satz von der Erhaltung des Stoffs, die erste wissenschaftliche Basis der Physik und Chemie, ein Satz, der durch die Feststellung der Atomgewichte sich in eine große Zahl von Einzelgesetzen gliedert. Diesem Satz zur Seite steht das Gesetz von der Erhaltung der Energie, das einerseits im Gesetz der Trägheit seinen negativen, anderseits in der Bestimmung der Aequivalentwerte der verschiedenen Energieformen (Aequivalente der kinetischen und potentiellen Energie) seinen positiven Ausdruck erhalten hat. Diese Sätze bilden zusammen mit den mathematischen Axiomen allgemeine regulative Prinzipien aller Naturwissenschaft. Man pflegt denselben auch den sogenannten zweiten Hauptsatz der Wärmetheorie beizugesellen, nach dem die Umwandlung der Energie aus der Erscheinungsform als Wärme in diejenige als Arbeit nur möglich ist, unter gleichzeitiger Ueberführung einer entsprechenden Quantität Wärme aus dem Zustande höherer in den niedrigerer Temperatur. Dieser Satz von dem in allen Energiewandlungen sich vollziehenden Wachstum der »Entropie« beruht aber auf einem Begriffe von der Materie, der von der Gravitation als wesentlicher Eigenschaft derselben absieht. Auch das Gesetz der Trägheit führt zu der Konsequenz unendlicher Zerstreuung sowohl der Energie als des Stoffs, wenn man von der Gravitation absieht. Es ist daher nicht gestattet, dem zweiten Hauptsatz eine Verallgemeinerung zu geben, die über die Grenzen hinausgeht, bis zu welchen die Wirkungen der Gravitation vernachlässigt werden können. Wohl geht im allgemeinen, d.h. soweit die Gravitation vernachlässigt wird, Wärme durch Leitung von selbst von den Körpern höherer zu denjenigen niedrigerer Temperatur; in einer vertikalen Luftsäule aber erfordert das thermische Gleichgewicht eine Abnahme der Temperatur von unten nach oben, entsprechend der durch die Gravitation in derselben Richtung bewirkten Energieabnahme der durcheinander bewegten Teilchen des Gases; die Atmosphäre ist gleichsam eine entropievermindernde Maschine (s. Atmosphäre).

Die Wissenschaft hat außer der deskriptiven Aufgabe, die Naturgesetze aufzusuchen durch Vergleichung und Beurteilung der Naturerscheinungen, die höhere konstruktive Aufgabe, aus den auf die einfachste und allgemeinste Form gebrachten Gesetzen die besonderen Gesetze und die Einzelerscheinungen herzuleiten, d.h. die Naturerscheinungen zu erklären. Besonders die Differentialgesetze müssen dadurch die Probe ihrer Richtigkeit und Objektivität bestehen, daß sie der Erklärung der Erscheinungen auch bei verschiedenst abgeändertem Experiment genügen und daß sie durch andre hypothetische Gesetze nicht ersetzt werden können. Zur weiteren Orientierung in dem erkenntnistheoretischen Gebiete des Begriffs der Naturgesetze sei verwiesen auf Kants kritische Arbeiten, besonders die »Kritik der reinen Vernunft« vom Jahr 1781, und die »metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaften« vom Jahr 1786 [1], im Gegensatz und in Ergänzung dazu vgl. [2]–[7].


Literatur: [1] J. Kants sämtliche Werke, herausgegeben von G. Hartenstein, Bd. 3 u. 4, S. 355, Leipzig 1867–68. – [2] Helmholtz, H. v., Die erkenntnistheoretischen Aufsätze in »Wissenschaftliche Abhandlungen«, Bd. 2, S. 591–660, Leipzig 1883. – [3] Mach, E., Die Geschichte[445] und die Wurzel des Satzes von der Erhaltung der Arbeit, Prag 1872. – [4] Kroman, K., Unsre Naturerkenntnis, übersetzt von Fischer-Benzon, Kopenhagen 1883. – [5] Braun, F., Ueber Gesetz, Theorie und Hypothese, Tübingen 1886. – [6] Mach, E., Ueber das Prinzip der Vergleichung in der Physik, Verh. der Gesellsch. deutscher Naturf. und Aerzte, Versammlung vom Sept. 1894, herausg. von Wangerin u. Taschenberg, Leipzig 1894. – [7] Helmholtz, H. v., Vorlesungen über theoret. Physik, Bd. 1, Abt. 1, herausg. von A. König u. C-Runge, Leipzig 1903.

Aug. Schmidt.


http://www.zeno.org/Lueger-1904.

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