Kinetik

Kinetik

Kinetik, chemische, die Lehre von der Geschwindigkeit chemischer Reaktionen.

Ihre Theorie ließ sich zunächst entwickeln an einem homogenen, d.h. in allen seinen [479] Punkten physikalisch und chemisch gleichförmigen System, das in chemischer Umwandlung begriffen ist. Das klassische Beispiel eines solchen Systems ist eine wässerige, angesäuerte Lösung von Rohrzucker, der sich bekanntlich allmählich unter Aufnahme eines Moleküls Wasser in Dextrose und Lävulose spaltet. Der Fortschritt dieser Reaktion läßt sich einfach und scharf durch polaristrobometrische Analyse verfolgen, weil der nichtinvertierte Teil die Ebene des polarisierten Lichtes nach rechts dreht, während die Reaktionsprodukte linksdrehend sind. Für diesen Fall stellte bereits 1850 Wilhelmi das Theorem auf, daß die Reaktionsgeschwindigkeit, d.h. die in einem kleinen Zeitmoment invertierte Zuckermenge, dividiert durch dies Zeitmoment, in jedem Augenblick proportional der nichtinvertierten Zuckermenge ist, und er fand so das Gesetz dx/dt = k (a – x), worin x die zur Zeit t umgesetzte, a die zur Zeit t = 0 vorhandene Zuckermenge bedeutet; k ist der Inversionskoeffizient und seine Bedeutung ist offenbar die, daß er die in der Zeiteinheit invertierte Zuckermenge angibt, wenn a konstant = 1 erhalten wird. Die Integration dieser Gleichung liefert k = 1/l ln a/a – x, welcher Ausdruck in diesen und ähnlichen Fällen ausgezeichnet durch die Erfahrung bestätigt wurde. Guldberg und Waage [1] und später van't Hoff [2] erweiterten das Theorem von Wilhelmi auf den allgemeinen Fall, daß 1. nicht nur wie bei der Rohrzuckerinversion eine einzige Molekülgattung während des Reaktionsverlaufs seine Konzentration ändert und 2. die Reaktion nicht vollständig vor sich geht, sondern Halt macht, nachdem ein chemischer Gleichgewichtszustand (s.d.) erreicht wird. Das klassische Beispiel für diesen allgemeinen Fall ist die Eiterbildung aus Säure und Alkohol, die bei niederen Temperaturen so langsam vor sich geht, daß der Fortschritt dieser Reaktion sich bequem titrimetrisch verfolgen läßt. Nach Guldberg und Waage bilden sich in diesem und analogen Fällen in jedem Augenblick Ester und Wasser aus Säure und Alkohol, und anderseits treten in jedem Augenblick die Moleküle des Esters und Wassers zusammen, um Alkohol und Säure zurückzubilden. Die wirklich beobachtete Reaktionsgeschwindigkeit ergibt sich so als die Differenz zweier entgegengesetzter Reaktionsgeschwindigkeiten, und der Gleichgewichtszustand ist also dadurch charakterisiert, daß diese beiden entgegengesetzten Reaktionsgeschwindigkeiten einander gleich sind. Falls eine Reaktion nach dem Schema m A1 + n A2 = m' A'1 + n' A2' verläuft, worin A1 A2, A1', A2' die reagierenden Molekülgattungen, c1, c2, c1', c2' deren Konzentrationen und m, n, m', n' die Anzahl der in die Reaktion eintretenden Moleküle bezeichnen, so ergibt sich durch kinetische Betrachtungen die Gleichung:

dc1/dt = k c1m · c2nk' · c1'm', c2'n',

worin d c1 die Aenderung von c1 in der Zeit d t bedeutet; k und k' sind die entgegengesetzten Reaktionsgeschwindigkeiten für die Konzentrationen = 1. Für den einfacheren Fall, daß m = n = m' = n' = 1, kann man hiefür auch schreiben:

dx/dt = k (a1 – x) (a2 – x) – k'(a1' + x) (a'2 + x),

worin dann z.B. für das spezielle Beispiel der Eiterbildung a1, a2 die zur Zeit t = 0 vorhandene Konzentration für Alkohol bezw. Säure, a'1, a'2 die gleichen Größen für Wasser und Ester bedeuten; x ist die zur Zeit t umgesetzte Molekülzahl des Alkohols bezw. der Säure, und Guldberg und Waage zeigten, daß die Folgerungen dieser Gleichung mit der Erfahrung in Uebereinstimmung sind. Eine wesentliche Vereinfachung bietet der für die meisten Reaktionen zutreffende Fall, daß die Reaktion fast vollständig in einem Sinne der Reaktionsgleichung verläuft, d.h. also, daß die eine der beiden Geschwindigkeiten groß im Vergleich zu der andern, mithin auch k groß gegenüber k' ist, so daß sich die rechte Seite der obigen Gleichung auf das erste Glied reduziert. Man unterscheidet uni-, bi-, trimolekulare u.s.w. Reaktionen, je nachdem die Größe x in der ersten, zweiten, dritten u.s.w. Potenz in der obigen Gleichung vorkommt, die in dem einfachsten Fall, d.h. falls a1 = a2 = a lautet:

dx/dt = k (a – x), dx/dt = k (a – x)2, dx/dt = k (a – x)3.

Durch Integration ergibt sich hieraus für die Geschwindigkeitskoeffizienten k der uni-, bi-, trimolekularen Reaktion

k = 1/t logn a/(a – x), k = 1/t · x (a – x) a und k = 1/t · x (2 a – x)/ 2 a2(a – x)2

Indem man prüft, für welchen dieser Ausdrücke die Beobachtungen eine Konstante ergeben, kann man entscheiden, ob die Reaktion uni-, bi- oder trimolekular ist, und damit einen tieferen Einblick in den Reaktionsvorgang gewinnen, als es das bloße Schema der Reaktion gibt. Die Reaktionsgeschwindigkeit wird in Lösungen durch verschiedene Zusätze, besonders durch H- und OH-Ionen stark katalytisch beeinflußt, vergrößert oder verkleinert, in gasförmigen Systemen durch die Gefäßwände oder sonstige feste Körper, vor allem Platin; in letzterem Falle gelten natürlich nicht mehr die obigen Gesetze der Reaktionskinetik, da das System nicht mehr homogen ist. Näheres s. Katalyse. Es ist ein wichtiger Satz, daß mit der Temperatur die Reaktionsgeschwindigkeit sehr stark ansteigt; van't Hoff gibt die allgemeine Regel, daß Erhöhung der Temperatur um 10° Reaktionsgeschwindigkeiten auf den 2,5– bis 3,5 fachen Betrag steigert. Es sind verschiedene Formeln für die Abhängigkeit des Geschwindigkeitskoeffizienten k von der Temperatur Tauf gestellt, die allgemeinste ist

log k = A T + B – C/T;

während aber nach vielen Untersuchungen bei niedrigen Temperaturen häufig das Glied mit A gleich Null zu setzen, ist nach Jellinek [1], der die Reaktion N2 + O2 = 2 NO zwischen 650–1750°[480] untersuchte, bei hohen Temperaturen das Glied mit C gleich Null zu setzen. Aus den erwähnten Grundprinzipien läßt sich, wie insbesondere van't Hoff gezeigt hat, auch der Verlauf turbulenter Reaktionen, wie Explosionen und Entflammungen, theoretisch ableiten; es superponieren sich hier die Gesetze für den isothermen Reaktionsverlauf und diejenigen des Einflusses der Temperatursteigerung, die durch die Reaktionswärme bedingt ist. Wird z.B. ein kleiner Teil eines explosiven Gasgemisches (z.B. Knallgas) auf höhere Temperatur gebracht, so wird die bei gewöhnlicher Temperatur außerordentlich minimale Reaktionsgeschwindigkeit ungeheuer erhöht. Die durch die Reaktion erzeugte Wärmemenge bringt auch die benachbarten Teile des Reaktionsgemisches auf höhere Temperatur und steigert auch hier die Reaktionsgeschwindigkeit, und man steht so, wie es durch stetige Aenderungen zu einer scheinbar ganz plötzlich verlaufenden Explosion oder Verpuffung kommen kann. Die Entzündungstemperatur ist also derjenige Punkt, wo sich die Reaktionsgeschwindigkeit dermaßen steigert, daß durch die entwickelte Wärmemenge die Reaktion sich fortzupflanzen imstande ist.


Literatur, van't Hoff, Vorlesungen über theoretische und physikalische Chemie, I, Braunschweig 1898; Nernst, Theoretische Chemie, 5. Aufl., Stuttgart 1907. – [1] Jellinek, Zeitschr. für anorgan. Chemie, 49, S. 229, 1906.

F. Krüger.


http://www.zeno.org/Lueger-1904.

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