Ramiespinnerei

Ramiespinnerei

Ramiespinnerei [1]. Die Gewinnung einer spinnbaren Ramiefaser bietet Flachs, Hanf und Jute gegenüber größere Schwierigkeiten, weil die Entholzung und Entgummierung nicht so einfach ist wie dort. Die Schwierigkeit ist: dadurch bedingt, daß im Bast der Ramierinde die Fasern einzeln oder nur zu zwei bis vier vereint liegen, während bei den übrigen meistbenutzten Faserpflanzen die Fasern zu vielen in Bündel beisammen liegen. Bei Ramie wird durch eine leichte Röste (vgl. Flachsspinnerei) das verbindende Zwischengewebe nicht genügend gelockert, um die Bastfasern gut isolieren zu können; wird hingegen die Fermentation bis zur vollständigen Zerstörung des Bastparenchyms fortgesetzt, so leiden auch die einzeln darin eingebetteten Fasern stark, sie werden mürbe,[349] verlieren den Glanz und sind zum Spinnen untauglich. Eine weitere Schwierigkeit der Isolierung der Ramiefasern liegt in der großen Menge von leim- oder gummiartigen Stoffen (besonders Pektose, Kutose und Vaskulose und pektinsaurer Kalk), die die Fasern umhüllen und verkleben und die nur mit chemischen Mitteln wegzuschaffen sind, die auch wieder aus dem vorher erwähnten Grunde nur sehr vorsichtig angewendet werden dürfen.

Es sind seit Anfang der 1870er Jahre mehr als 500 Arbeitsverfahren für die Separierung der Ramiefaser vorgeschlagen worden [2]. Die in China übliche Methode [3] beruht ausschließlich auf Handarbeit (3–4 kg gereinigte Fasern auf einen Arbeiter täglich), ist daher für einen Großbetrieb, wie er in Plantagen erfolgen muß, zu umständlich und kostspielig. Von chemischen Mitteln wurden vorgeschlagen [4]: Ueberhitzter Wasserdampf (Favier, Deininger), Aetznatron, Aetzkali, Soda und Pottasche (Frémy und Urbain, Vautier, Neumann, Ewald, Fenton, Dupré, Glücksherr u.a.), schweflige Säure und Sulfite (Mitscherlich, Tilgmann, Sansonne, Mörmann-Laubuhr u.a.), Salzsäure sowie die Chloride von Magnesium und Calcium (Buchholz, Ferrero), Chlor und Hypochlorite (Baur), gelöschter Kalk (Thümmler und Seidel), Alkohol (Krämer), Seifen, Gärung (Gregerson, Hartog, Ramiegesellschaft Emmendingen) u.s.w. Sie alle führen, allein angewendet, nicht zum Ziele und sind höchstens in Verbindung mit mechanischen Prozessen brauchbar; insbesondere werden ätzende Alkalien und verdünnte Mineralsäuren benutzt, um die abgeschiedenen Rohfasern von den Resten des Pflanzenleims zu befreien, zu degummieren.

Versuche, um brauchbare Maschinen zur Abscheidung der Rohfasern auf mechanischem Wege (Dekortikationsmaschinen) zu konstruieren, wurden besonders durch Preisausschreibungen der englischen Regierung (1869 und 1872) und der französischen Regierung (1888, 1889, 1891) u.s.w. veranlaßt. Gute Erfolge weisen auf die Maschinen von Smith, Favier, de Landsheer, Barbier, Sanford, Leigh, Wallace, Greig, Roland, Faure, Subra, Marc, Allison, Krupp-Grusonwerk, Armstrong, Boeken u.s.w. [4]. Die Erfahrungen mit den genannten Maschinen haben gelehrt, daß es nicht vorteilhaft ist, an den Stengeln nur die Rinde abzulösen und diese später in getrocknetem Zustande zu verarbeiten; die Loslösung der Fasern aus dem Gewebe ist in der Praxis nahezu unmöglich, wenn sie durch Trocknen mit dem Begleitgewebe festverklebt sind. Es ist unbedingt notwendig, an Ort und Stelle die frischgeschnittenen Stengel, nachdem auf dem Felde davon die Blätter abgestreift worden sind, sogleich in grünem Zustande zu entrinden und die Fasern abzuscheiden, solange die gummiartigen Stoffe noch in gelöster Form in der Rinde enthalten sind.

Nach [5] hat sich der Ramieentholzer »Aquiles« [6] von H.J. Boeken in Düren, wie er von dem Krupp-Grusonwerk gebaut wird, gut bewährt. Fig. 1 zeigt ihn in Hinteransicht. Die Stengel werden durch drei Walzen zugeführt, passieren zwischen zwei starren Lippen und werden durch zwei davor rasch schwingende Backen hin und her gebogen, wobei die Holz- und Machteile zerbröckelt und abgestrichen werden. Die Vorteile der Maschine liegen in einer großen Schonung der Faser, in der Einfachheit der mechanischen Konstruktion und der Leichtigkeit des Transportes, was namentlich zu berücksichtigen ist, da die Entholzung zweckmäßig gleich auf dem Felde geschieht, wo die Blätter, Holz- und Markteilchen als trefflicher Dünger zurückbleiben.

Bezüglich der Ramieernte gilt folgendes. Bereits 6 Monate nach dem Pflanzen der Wurzeln werden faserreife Stengel geerntet und man kann in für die Pflanzen geeignetem Boden auf vier Ernten im Jahre rechnen. Man rechnet beim Schnitt auf die Pflanze 45 Stengel (zu 50 g), im Jahre also 180 Stengel oder 1800000 auf den mit 10000 Pflanzen bedeuten Hektar oder 90000 kg; 5% durchschnittlicher Betrag an Rohfaser angenommen, liefert 1 ha jährlich 41/2 t trockene Fasern. In den Produktionsländern erfolgt meist nur die Fasergewinnung, während die Entgummierung in den Spinnereien geschieht.

Nachdem die Schwierigkeiten der Entholzung, Entbastung und Entgummierung im wesentlichen gelöst, entstanden die verschiedenen maschinellen Verspinnungsarten der Ramie, und es war zuerst der englische Spinner Marshall in Leeds, welcher 1850/51 diese Faser zu Gespinsten versponnen hat. Diese Verspinnung lehnte sich unmittelbar an die Flachsspinnerei an und lieferte ein glänzendes, aber ungleichmäßiges Garn. 1875 errichtete die Maschinenfabrik Greenwood & Batley (Leeds) eine Ramiespinnerei in Wakefield mit einem kombinierten, besonders für diese Faser zusammengestellten System, bestehend in großen Vorpräparierern mit eignem Gillsystem als Grundlage, an dieses anschließend Kämmerei und Feinstreckmaschine und, aus der Florettseidenspinnerei entnommen, Vorspinn- und Feinspinnmaschinen. Dieses System lieferte ein ziemlich gutes Garn, aber die Produktion war zu klein und deshalb zu teuer, und diese Art Vorbereitung wurde aufgegeben. Die 1881 errichtete erste größere Ramiespinnerei in Frankreich, »Feray«, nachmals Ramie française, basierte zunächst auf dem Florettseidensystem (vgl. Seidenspinnerei) und ging dann auf das Kämmen auf Kammstühlen, System Heilmann-Delette, von Schlumberger in Gebweiler ausgeführt, über. Die Behandlung der Faser nach diesem System erwies sich als günstig und wurde von der 1886 errichteten Ersten Deutschen Ramiegesellschaft in Emmendingen als Grundlage genommen[350] und verbessert. Hieraus entwickelte sich nun das auch von späteren Ramiespinnereien angenommene und noch heute von den größten Ramiespinnereien angewendete, im folgenden dargestellte System der Vorbearbeitung und Kämmerei der Ramiefasern.

Die Ramiefasern werden nach sorgfältiger Erweichung auf Aufschließmaschinen (Dekortikationsmaschinen), Entgummierung und Bleichen auf einer Maschine behandelt (Fig. 2), welche mit geriffelten Walzen, die eine Translations- und gleichzeitig eine vor- und rückwärts gehende, die sogenannte Pilgerschrittbewegung machen. Die Faserbündel werden dadurch mehr in die Einzelstränge aufgelöst und die Faser selbst geschmeidiger gemacht. Hierauf werden die Faserstränge auf eine Walzenkrempel (Fig. 3) gegeben, die sie unter Einschaltung von Nadelstabstreckvorrichtung in Bandform abliefern. Diese Bänder werden auf starken Nadelstabstrecken (gillboxes), deren Bauart denen der Florettseidenspinnerei entlehnt ist, verstreckt und auf eine Wickelmaschine (assembleuse) gebracht, welche eine Anzahl Bänder zu einem Wickel verarbeitet. Diese Wickel (breite, vergleichmäßigte Bänder) werden auf der Kämmaschine Heilmann-Delette oder auf einer der neueren verbesserten Maschinen desselben Systems (vgl. Kammgarnspinnerei) aufgelegt und ausgekämmt. In Frankreich sind auch die Kämmmaschinen nach System Lister zur Anwendung gelangt. Die Kämmaschinen ergeben etwa 75% gekämmter Fasern (Zug) aus dem ungekämmten Material.

Nach der Behandlung der Ramiefaser auf der Kämmaschine folgt die Verstreckung und Vergleichmäßigung des Kammzuges auf Feinstrecken, welche sämtlich nach dem Florettseidensystem gebaut sind und nur in den Verzugslängen und in der Ausgestaltung der Nadelstabfelder von ihnen abweichen. Hierauf folgt die Verarbeitung der Bänder zu Vorgarn auf der Flügelvorspinnmaschine (Flyer, Roving), wie in der Florettseidenspinnerei.

Die nun folgende Verspinnung der Ramiefaservorgarne hat 1885–87 wesentliche Verbesserungen dadurch erfahren, daß man die Naßspinnerei aufnahm und einen Spinnstuhl konstruierte, welcher die Vorzüge der Leinen- und der Seidenspinnerei in sich vereinigte, der Länge und Feinheit der Ramiefaser entsprechend. Das Zweizylindersystem der Leinen-(Flachs-)Spinnerei erwies sich als ungenügend für die lange Ramiefaser, aber die Verspinnung der angefeuchteten, in Seifenbädern u.s.w. imprägnierten Faser als sehr zweckmäßig, und so entstand die Ramiespinnmaschine mit drei bis vier Zylinderpaaren im Streckwerk.

Fig. 4 zeigt den Schnitt durch einen Dreizylinderspinnstuhl Schlumberger-Fairbain. Der Kämmling kann nach dem Streichgarnspinnverfahren zu Ramiestreichgarn verarbeitet werden. Die aus Ramie erzeugten Garne werden nun in einfachem Faden, oder auch gezwirnt (die Zwirnerei geschieht auf bekannte Weise nach Art der Leinenzwirnerei) als Kette und Schuß, teils roh und gebleicht, teils gefärbt, zu Geweben der Möbelstoffabrikation, Plüschen, Tischzeugen, zu Strick- und Wirkwaren (als Grundstoff für Glühstrümpfe), Phantasietüchern, Stickereien und Posamentierartikeln, allein oder in Verbindung[351] mit Woll-, Seiden- oder Baumwollgarnen verwendet und geben durch ihren seidenartigen Glanz diesen Waren ein schönes Aussehen. Die bedeutendste, erfolgreichste Ramiespinnerei ist die der Ersten Deutschen Ramiegesellschaft in Emmendingen.


Literatur: [1] Grothe, H., Technologie der Gespinstfasern, 2. Aufl., Berlin 1884; Michotte, Traité scientifique et industriel de la ramie, Paris 1891; La Ramie, culture, préparation, utilisation industrielle, Paris 1901; Bureaux de la Revue des cultures coloniales; Hassack, Ramie, Mitt. a. d. Laboratorium f. Warenkunde an der Wiener Handelsakademie, Wien 1890. – [2] Schulte im Hofe, Die Ramiefaser und die wirtschaftliche Bedeutung für die deutschen Kolonien, Berlin 1898. – [3] Semler, Tropische Agrikulturen, S. 680; Grothe, Verh. d. Ver. f. Gewerbefleiß in Preußen 1868. – [4] Hassack, Ramie, Zeitschr. f. d. ges. Textilindustrie, 1898/99, S. 254; Erban, ebend. 1906/07, S. 273. – [5] Ebend. 1906/07, S. 285; Tropenpflanzer, 1906, Nr. 2. – [6] D.R.P. Nr. 175638, KL 29 a, Gruppe 2.

E. Müller.

Fig. 1.
Fig. 1.
Fig. 2., Fig. 3.
Fig. 2., Fig. 3.
Fig. 4.
Fig. 4.

http://www.zeno.org/Lueger-1904.

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