- Sieden
Sieden heißt die Bildung von Dampfblasen im Innern einer Flüssigkeit (vgl. Dampf, Bd. 2, S. 537). Alle Flüssigkeiten lassen sich durch genügende Wärmezufuhr zum Sieden bringen (s. Flüssigkeitswärme). Der Beginn des Siedens ist an eine gewisse Temperaturhöhe, die Siedetemperatur oder Verdampfungstemperatur, gebunden, welche von der Körperart abhängt und eine Funktion des spezifischen Drucks p auf die Flüssigkeit an der Siedestelle ist (Bd. 2, S. 537, 539). Wenn von der Siedetemperatur ohne Angabe des [104] Drucks gesprochen wird, pflegt man darunter die Siedetemperatur für p = 1 Normalatmosphäre (zu 760 mm Quecksilbersäule oder 10333 kg pro Quadratmeter, vgl. Bd. 1, S. 338) zu verstehen. Die normale Siedetemperatur stimmt mit der Temperatur des gesättigten Dampfes überein, und ebenso mit der Kondensationstemperatur beim Uebergang dieses Dampfes in den flüssigen Zustand. Während des Siedens wie während der Kondensation unter konstantem Drucke bleibt die Temperatur konstant. Ganz ähnlich liegen die Verhältnisse beim Schmelzen (s.d.).
Siedepunkt, Verdampfungspunkt, Kondensationspunkt sind gebräuchliche Bezeichnungen für Siedetemperatur, Verdampfungstemperatur, Kondensationstemperatur. Man hat z.B. bei p = 1 Atmosphäre:
Siedeverzüge. Es kommt vor, daß das Sieden erst bei einer Temperatur t1 beginnt, welche oberhalb der normalen Siedetemperatur t = f (p) liegt. Die Differenzen t1 t werden Siedeverzüge genannt. Versuche von Gay-Lussac, Muncke, Rudberg [1] zeigten, daß die Natur und Reinigung der Wände von Einfluß auf dieselben ist, was der verschiedenen Adhäsion zugeschrieben wurde, doch handelt es sich hierbei nur um Siedeverzüge bis zu einzelnen Graden. Weit größere Siedeverzüge sind nach dem Vorgange von Donny [3], S. 177, durch Befreien der Flüssigkeit von absorbierter Luft erreicht worden, so von Dufour [6] durch wiederholtes Kochen unter dem Rezipienten der Luftpumpe bis 23,2°, von Krebs [7] sogar bis etwa 100°. Umgekehrt können durch Einwerfen von Feilspänen, Sand u.s.w. (an welchen verdichtete Luft haftet) in die Flüssigkeit die Siedeverzüge sofort unterbrochen werden. Diese Körper wirken nicht mehr, nachdem sie in der Flüssigkeit mehrfach bis zum Sieden erhitzt (und damit von Luft befreit) wurden. Daß durch Vorhandensein von Luftbläschen die Bildung von Dampfblasen erleichtert wird, steht im Einklang mit der Clausiusschen Erklärung der Verdampfung (Die mechanische Wärmetheorie, III, Braunschweig 1889/91, S. 12; [28], S. 4). Grove u.a. kamen zu der Ansicht, daß vollständig gasfreies Wasser überhaupt nicht zum Sieden gebracht werden kann. ([21], S. 711). Tritt nach Siedeverzügen das Sieden endlich ein, so erfolgt die Verdampfung fast plötzlich. Man hat hierauf manche Kesselexplosionen zurückführen wollen ([3], S. 183, 190; [6]; [7], Bd. 138, S. 439; [10]), doch ist kein derartiger Fall erwiesen, wie unter anderm eine Kommission der Pariser Akademie festgestellt hat ([11], [28], S. 12). Auch bei Siedeverzügen nimmt der Dampf über der Flüssigkeit rasch die normale Siedetemperatur an [1], [2], was schon Rudberg zu der Vorschrift veranlaßte, die Thermometer behufs Markierung des Siedepunkts in den Dampf über der Flüssigkeit, nicht in diese selbst zu halten ([1], S. 59). Weiteres über Siedeverzüge s. [1][3], [6][11], [21], S. 708, Siedepunktserhöhungen durch Auflösen gewisser Salze [21], S. 712.
Aenderung des Siedepunkts mit dem Drucke. Die (normale) Siedetemperatur steigt und fällt zugleich mit dem Drucke. Dieser Einfluß macht sich schon ohne künstliche Mittel geltend. Während das Wasser im Niveau des Meeres durchschnittlich bei 100° siedet, liegt die Siedetemperatur auf dem Rigi (1800 m) ungefähr bei 92°, auf dem Montblanc (4810 m) bei 82°, auf dem Mount Everest im Himalaja (8840 m) bei 70°. Von 0,06 bis 22,9 Atmosphären wächst die Siedetemperatur des Wassers nach Regnault von 0 bis 220°. Bezüglich weiterer Werte s. die Tabellen Bd. 2, S. 539, 540, und [15], [24], [28] u.s.w. Für die Veränderlichkeit des Siedepunkts t mit dem Drucke p gilt die Clapeyronsche Gleichung Bd. 2, S. 470. Daneben hat man die Beziehung zwischen p und t auf Grund von Versuchsresultaten durch empirische Formeln darzustellen gesucht. So wählte Regnault die von Biot vorgeschlagene Formel:
log p = a + b αt + c βt,
1.
worin a, b, c, α, β Konstante (Werte derselben für Wasser u.s.w. s. [21], S. 727, [24], S. 14, [27], S. 992, [28]), S. 5. Eine andre Formel von Bertrand s. Bd. 2, S. 539. Aus den Bd. 2, S. 538 angeführten Gleichungen der Grenzkurve und der Zeunerschen Zustandsgleichung für überhitzte Dämpfe folgt die absolute Siedetemperatur [28], S. 95:
T = a pe + b pw,
2.
und für Wasserdampf mit den für erhebliche Ueberhitzungen gebräuchlichen Konstanten:
T = 335,21 p0,06068 + 37,65 p0,25,
3.
worin p in Normalatmosphären einzusetzen ist. Bessere Uebereinstimmung mit den Regnaultschen Resultaten für gefättigten erhält man mit den von Jarolimek gewählten Konstanten [28], S. 95:
[105] wie folgende Zusammenstellung zeigt:
Gleichung 4. soll von 0,00004 bis 28 Atmosphären genügen. Weitere Interpolationsformeln s. [5], S. 135, [13], [27], S. 992. Beziehungen zwischen p, T und dem spezifischen Volumens des trockenen gesättigten Dampfes Bd. 2, S. 538, 544, 545, [27], S. 995.
Ueber die nötige Wärmezufuhr zur Erzielung und Erhaltung des Siedens s. Bd. 2, S. 539, 540, 542, und Flüssigkeitswärme, Verdampfungswärme, Gesamtwärme sowie [25], S. 474, [28], S. 23. Wärmetheoretische Beziehungen für die durch das Sieden entgehenden Dampf- und Flüssigkeitsgemische Bd. 2, S. 542. In beiden Hinsichten geben unter andern die Werke [24], [27], [28] Aufschlüsse; s.a. Siedetemperaturen, korrespondierende.
Literatur: [1] Rudberg, Ueber die Konstruktion der Thermometer, Poggend. Ann. 1837, XL, S. 39, 562. [2] Marcet, Untersuchungen gewisser Umstände, welche auf die Temperatur des Siedepunkts von Einfluß sind, ebend. 1842, LVII, S. 218. [3] Donny, Mémoire sur la cohésion des liquides et sur leur adhérence aux corps solides, Annales de chimie et de physique 1846, XVI, S. 167. [4] Regnault, Relation des expériences etc., I, Paris 1847, S. 465 (Wasser); II, Paris 1862, S. 335 (andre Flüssigkeiten). [5] Marbach, Physikalisches Lexikon, II, Leipzig 1853, S. 20: Artikel Dampf (ältere Versuche). [6] Dufour, Ueber das Sieden des Wassers und über eine wahrscheinliche Ursache des Explodierens der Dampfkessel, Poggend. Ann. 1865, CXXIV, S. 295. [7] Krebs, Versuche über Siedeverzüge, ebend. 1868, CXXXIII, S. 673; 1869, CXXXVI, S. 144; 1869, CXXXVIII, S. 439. [8] Schröder, Untersuchungen über die Bedingungen, von welchen die Entwicklung von Gasblasen und Dampfblasen abhängig ist und über die bei ihrer Bildung wirksamen Kräfte, ebend. 1869, CXXXVII, S. 76, und 5. Ergänzungsbd., 1871, S. 87, 115. [9] Gernez, Recherches sur l'ébullition, Annales de chimie et de physique, 1875, IV, S. 335. [10] Trève, Sur l'action de présence de feuilles de zinc dans les chaudières et sur un procédé pour en éviter les explosions, Compt. rend. etc. 1882, VC, S. 522 (s.a. 1883, LXXXXVI, S. 1043; 1883, LXXXXVII, S. 57). [11] Hirsch, Rapport présenté à la commission centrale des machines à vapeur an nom de la sous-commission chargée des études et expériences relatives à l'eau surchauffées, Annales des ponts et chaussées 1885, II, S. 198 (Kommissionsbeschlüsse S. 229). [12] Kahlbaum, Siedetemperatur und Druck in ihren Wechselbeziehungen, Leipzig 1885. [13] Bertrand, Thermodynamique, Paris 1887, S. 90, 93, 154, 161, 166, 193. [14] Ramsay und Young, On some of the properties of water and of steam, Philosophical Transactions A 1892, S. 107. [15] Cailletet et Colardeau, Nouvelle méthode de détermination du point critique etc., Annales de chimie et de physique, V. Serie, Bd. 25, 1892, S. 519. [16] Batelli, Étude de la vapeur d'eau en rapport avec les lois de Boyle et de Gay-Lussac, ebend. VII. Serie, Bd. 3, 1894, S. 408. [17] Nernst und Hesse, Siedepunkt und Schmelzpunkt, ihre Theorie und praktische Verwertung, Braunschweig 1894. [18] Wiebe, Tafeln über die Spannkraft des Wasserdampfes zwischen 76 und 101,5°, Braunschweig 1894 (im Auftrag der phys.-techn. Reichsanstalt). [19] Olszewski, On the liquefaction of gases, Philosophical Magazine 1895, XXXIX, S. 188 (Tab. S. 210, Auszug Naturwiss. Rundschau 1895, S. 199). [20] Ders., Bestimmung der kritischen und der Siedetemperatur des Wasserstoffs, Wiedemanns Annalen 1895, LVI, S. 133 (Naturwiss. Rundschau 1895, S. 506). [21] Wüllner, Lehrbuch der Experimentalphysik, II, Die Lehre von der Wärme, Leipzig 1896, S. 707. [22] Pfaundler, Müller-Pouillets Lehrbuch der Physik und Meteorologie, Bd. 2, Braunschweig 1898, S. 200. [23] Hausbrand, Verdampfen, Kondensieren und Kühlen, Erklärung, Formeln und Tafeln für den praktischen Gebrauch, Berlin 1899. [24] Zeuner, Technische Thermodynamik, II, Leipzig 1901, S. 3. [25] Landoldt-Börnsteins physikalisch-chemische Tabellen, Berlin 1905, S. 255, 268, 313, 485, 505. [26] Chwolson, Lehrbuch der Physik, Bd. 3, Braunschweig 1905, S. 636. [27] Winkelmann, Handbuch der Physik, Bd. 3, 2. Hälfte, Leipzig 1906, S. 642, 899. [28] Weyrauch, Grundriß der Wärmetheorie, 2. Hälfte, Stuttgart 1907, S. 1.
Weyrauch.
http://www.zeno.org/Lueger-1904.