Wahrscheinlichkeitsrechnung

Wahrscheinlichkeitsrechnung

Wahrscheinlichkeitsrechnung gibt die Regeln und Formeln, wonach an und für sich zufällige Ereignisse der mathematischen Berechnung unterworfen werden können und die Anwendungen dieser Regeln und Formeln auf die großen und wichtigen Gebiete, worin zufällige Ereignisse auftreten.

Die mathematische Wahrscheinlichkeit für den Eintritt eines Ereignisses wird dargestellt durch einen echten Bruch, dessen Nenner die Anzahl aller denkbaren günstigen und ungünstigen Fälle, welche eintreten können, dessen Zähler die dem Ereignis günstigen Fälle angibt, vorausgesetzt, daß alle in Betracht kommenden Fälle unsers Wissens gleich möglich sind. Beim einmaligen Aufwerfen eines richtig konstruierten Würfels ist die Wahrscheinlichkeit dafür, z.B. vier Augen zu werfen, gleich 1/6, und beim einmaligen Aufwerfen von zwei Würfeln ist die Wahrscheinlichkeit für dasselbe Ereignis gleich 3/36. – Bei reellen Glücksspielen müssen die zu erwartenden Gewinne, nach dem Verhältnis der Wahrscheinlichkeiten zu gewinnen, derart verschieden sein, daß der kleineren Wahrscheinlichkeit der größere Gewinn entspricht, oder schärfer gefaßt, daß die aus der Wahrscheinlichkeit, zu gewinnen, und dem Gewinn gebildeten Produkte, die als mathematische Erwartung der Spieler bezeichnet werden, für die bei dem Spiel Beteiligten einander gleich sein müssen. Die hiermit gegebene mathematische Grundlage für die richtige Anordnung der Glücksspiele, für die richtige Festsetzung von Einsatz und Gewinn, bildet auch die Grundlage für die Einrichtung von Versicherungen; auch bei diesen muß die mathematische Erwartung, zu der die Bezahlung einer bestimmten Prämie berechtigt, gleich sein der mathematischen Erwartung, welche sich für die Versicherungsgesellschaft aus der Verpflichtung ergibt, eventuell die versicherte Summe zu zahlen, abgesehen von der Erhöhung der Prämien, die sich aus der Deckung der Verwaltungskosten und aus dem von der Gesellschaft beanspruchten Gewinn ergibt.

Die Ergebnisse der Wahrscheinlichkeitsrechnung stimmen aber mit den tatsächlichen Vorgängen im praktischen Leben nur überein, wenn eine große Zahl von Fällen betrachtet wird, und sie stimmen um so besser damit überein, je größer die Anzahl der betrachteten Fälle ist. Wenn ein Würfel sechsmal nacheinander aufgeworfen wird, so kann sehr wohl jedesmal ein Auge geworfen werden, wenn der Würfel aber tausendmal aufgeworfen wird, so werden die Augenzahlen 1 bis 6 bei diesen 1000 Würfen annähernd gleich oft vorkommen, und wenn die Zahl der Würfe noch weiter erhöht wird, so wird sich eine immer mehr gleich werdende Anzahl der verschiedenen Würfe ergeben. Ferner wird auch dann, wenn die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten eines Ereignisses nicht aus einer sicher berechenbaren Anzahl von Fällen, sondern aus schwankenden Erfahrungszahlen abgeleitet wird, ein um so sichereres Ergebnis erzielt, je größer die Anzahl der benutzten Erfahrungszahlen ist. Die Wahrscheinlichkeit dafür, daß auf je 1000 Häuser ein Haus abbrennt, wird sehr unsicher erhalten, wenn sie aus zehnjährigen Erfahrungen in einem kleinen Dorf abgeleitet wird; sie wird aber mit großer Sicherheit bestimmt, wenn die hundertjährige Erfahrung in einem großen Staate zugrunde gelegt wird. Die Wahrscheinlichkeitsrechnung sichert ihre Ergebnisse aber nicht nur durch Beachtung dieses allgemeinen Prinzips der großen Zahl, sondern sie ermöglicht auch, die Grenzen rechnungsmäßig festzustellen, innerhalb derer die Fehler ihrer Ergebnisse liegen, wonach dann bei der praktischen Anwendung Vorkehrungen getroffen werden können, um den aus den Fehlern möglicherweise entstehenden Schaden zu decken. So werden z.B. bei den Versicherungen Reservefonds errichtet oder Rückversicherungen bei andern Versicherungsgesellschaften abgeschlossen, um außergewöhnliche Schäden zu decken.

Von sehr großer Bedeutung ist die Anwendung der Wahrscheinlichkeitsrechnung auf die Ergebnisse der astronomischen, geodätischen, physikalischen und ähnlichen Messungen. Sie ermöglicht nicht nur, daß die allen Beobachtungen entsprechenden wahrscheinlichsten Mittelwerte der zu bestimmenden Größen berechnet werden (s. Methode der kleinsten Quadrate), sondern sie ermöglicht auch durch eine scharfe Kritik der sich ergebenden wahrscheinlichsten Werte der Beobachtungsfehler die Feststellung regelmäßiger Fehler und deren Ursachen. Hiernach können dann die Beobachtungs- und Rechnungsmethoden verbessert werden, um die Wirkung der die Ergebnisse stets einseitig entstellenden regelmäßigen Fehler aufzuheben. Bei der Feststellung der Ursachen der regelmäßigen Fehler ergeben sich oft wichtige neue Tatsachen, wie z.B. bei den geodätischen und astronomischen Beobachtungsergebnissen die Lotabweichungen und die Schwankungen in der Richtung der Erdachse. Im übrigen sei hier auf die umfangreiche Literatur der Wahrscheinlichkeitsrechnung verwiesen. Historische Angaben über die Entwicklung und Ausbildung der Wahrscheinlichkeitsrechnung und Literaturangaben in größerem Umfange sind enthalten in [2], [9], [13]. – Eine populäre Darstellung ist gegeben in [11]. Außerdem sind unten noch die wichtigeren Werke der neueren Zeit angeführt.


Literatur: [1] Laplace, Théorie analytique des Probabilités, Paris 1812. – [2] Ders., Essai philosophique sur les Probabilités, Paris 1814, deutsch von Tönnies, Heidelberg 1819 und von Schwaiger, Leipzig 1886. – [3] Hagen, Grundzüge der Wahrscheinlichkeitsrechnung, Berlin 1837, 1867, 1882. – [4] Poisson, Recherches sur la Probabilité des Jugements en matière criminelle et en matière civile, Paris 1837, deutsch erweitert zum Lehrbuch der Wahrscheinlichkeitsrechnung von Schnuse, Braunschweig 1841. – [5] Fries, Versuch einer Kritik der Prinzipien der Wahrscheinlichkeitsrechnung, Braunschweig 1842. – [6] Cournot, Exposition de la théorie des chances et des probabilités, Paris 1843, deutsch von Schnuse, Braunschweig 1849. – [7] Sawitsch, Anwendung der Wahrscheinlichkeitstheorie, deutsch von Lais, Mitau und Leipzig 1863. – [8] Meyer, A., und Folie, F., Cours de calcul des probabilités fait à l'université de Liège de 1849 à 1857, publié par s. Folie, Bruxelles 1874, deutsch unter dem Titel: Meyer, Vorlesungen über Wahrscheinlichkeitsrechnung, übersetzt und erweitert von Czuber, Leipzig 1879. – [9] Cantor, Historische Notizen über die Wahrscheinlichkeitsrechnung, Halle 1854. – [10] Lexis,[824] Zur Theorie der Massenerscheinungen in der menschlichen Gesellschaft, Freiburg 1877. – [11] Geisenheimer. Ueber Wahrscheinlichkeitsrechnung, Heft 335 in der Sammlung gemeinverständlicher Vorträge von Virchow und Holtzendorf, Berlin 1880. – [12] Fick, Philosophischer Versuch über die Wahrscheinlichkeiten, Würzburg 1883. – [13] Kries, Die Prinzipien der Wahrscheinlichkeitsrechnung, Freiburg i. B. 1886. – [14] Herz, Wahrscheinlichkeits- und Ausgleichungsrechnung, Leipzig 1900. – [15] Czuber, Wahrscheinlichkeitsrechnung und ihre Anwendung auf Fehlerausgleichung, Statistik und Lebensversicherung, Leipzig 1902.

Otto Koll.


http://www.zeno.org/Lueger-1904.

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