- Ebbe und Flut [1]
Ebbe und Flut, die bekannte oszillatorische Bewegung des Meeres, für die auch der Name Gezeiten oder Tiden üblich ist und die bewirkt, daß jeder an der Küste eines freien Meeres gelegene Ort in einem Zeitraum, der etwas mehr als 24 Stunden umfaßt, je zweimal Hoch- und Niedrigwasser hat. Ausnahmen kommen vor, wie denn z.B. für die chinesische Küste im allgemeinen nur je ein Flut- und Ebbestand zu verzeichnen ist [1]. In Binnenmeeren (Ostsee, Mittelmeer, abgesehen von Syrten und Adria) schwächt sich die Amplitude der Welle bis zur Unmerklichkeit ab, und Binnenseen entbehren der Gezeiten so gut wie gänzlich.
[204] Die schon im Altertum seit Pytheas verbreitete Ansicht, daß das Anschwellen des Wassers auf den Mond zurückzuführen sei [2], hat Newton [3] mathematisch begründet und zugleich gezeigt, daß auch die Sonne als anziehender Faktor in Betracht komme. Im Stande der Syzygien verstärken sich, im Stande der Quadraturen beeinträchtigen sich gegenseitig die Attraktionswirkungen beider Himmelskörper; im ersteren Falle hat man die Springfluten, die sich zumal an Flachküsten oft zerstörend betätigen [4], im andern die Nippfluten oder (besser) tauben Fluten. Die Begründung der statischen Gezeitentheorie durch Airy [5] ebnete der dynamischen Gezeitentheorie den Weg, mittels deren W. Thomson [6] und Börgen [7] die Fluthöhe als Summe einer Reihe mathematisch genau angebbarer Glieder darzustellen verstanden (harmonische Analyse). Selbstverständlich gibt es auch atmosphärische Gezeiten, allein dieselben sind für eine Beeinflussung der Witterung viel zu unbeträchtlich [8] und überhaupt nur unter den Tropen barometrisch nachweisbar. Die Technik hat der Meereskunde einen wichtigen Dienst geleistet durch die Konstruktion der Flutautomaten oder selbstregistrierenden Pegel, indem der an einem Schwimmer in kommunizierender Röhre befestigte Schreibstift am Mantel eines rotierenden Zylinders die Schwankungen des Wasserstandes in Form einer stetigen Kurve aufzeichnet [9]. Die besten Apparate dieser Art hat man von Reitz und Seibt. Ein vorzügliches Werk über alle einschlägigen Fragen lieferte der englische Geophysiker Darwin [10]. Der Gedanke, die ungeheure Energie der Flutwelle maschinell zu verwerten, ist zwar schon ausgesprochen, jedoch höchstens in ganz kleinen Anfängen verwirklicht worden (s. Flutmaschinen). Die Messung dieser Größe und überhaupt der lebendigen Kraft einer jeden Brandungswoge ermöglicht das Wellendynamometer von Stevenson [11].
Literatur: [1] Krümmel, Handbuch der Ozeanographie, Stuttgart 1887, Bd. 2, S. 220 ff. [2] Berger, H., Geschichte der wissenschaftlichen Erdkunde der Griechen, Leipzig 1903, S. 352 ff., 560 ff. [3] Newton, Mathematische Prinzipien der Naturlehre, deutsch von Wolfers, Berlin 1872, S. 448 ff. [4] Eilker, Die Sturmfluten der Nordsee, Emden 1876. [5] Airy, Tides and Waves, London 1847. [6] Thomson, W. (Lord Kelvin), On Tides, Proceedings of the Royal Society, Bd. 7, S. 447 ff. [7] Borgen, Neue Methode, die harmonischen Konstanten der Gezeiten abzuleiten, Annalen der hydrogr. und marit. Meteorol., Bd. 22, S. 216 ff., 259 ff., 295 ff. [8] Günther, Der Einfluß der Himmelskörper auf Witterungsverhältnisse, Nürnberg 1884. [9] Krümmel, a.a.O., S. 164 ff. [10] Darwin, G.H., Ebbe und Flut sowie verwandte Erscheinungen im Sonnensysteme, deutsch von A. Pockels, Leipzig 1904. [11] Krümmel, a.a.O., S. 98 ff.; Stevenson, Design and Construction of Harbours, Edinburgh 1886, S. 37 ff.
Günther.
http://www.zeno.org/Lueger-1904.