- Fluchtlinie [1]
Fluchtlinie, die technische Bezeichnung für die beim Bauen zu beobachtende Straßen- oder Gartengrenze.
[96] Man unterscheidet Straßenfluchtlinie und Baufluchtlinie, vordere und hintere (rückwärtige) Fluchtlinie. Straßenfluchtlinie und Baufluchtlinie fallen zusammen, wenn die auf der Grenze der Straßenfläche errichtete senkrechte Ebene zugleich die aufgehende Vorderwand der Gebäude bildet. In diesem Falle ist es unvermeidlich, daß gewisse Bauteile über und unter der Erde vor die Fluchtlinie vortreten, so die Gesimse und Balkone oberirdisch, Fundamentabsätze und Kellerschächte unterirdisch. Das Maß des Vorsprungs ist entweder dem Bauenden freigegeben oder es wird im Einzelfalle das zulässige Größtmaß seitens der Baubehörde festgesetzt, oder die Größtmaße sind durch Polizeiverordnung bezw. Ortsstatut einheitlich geregelt, letzteres besonders für Balkone und Erker.
Sind Straßen- und Baufluchtlinien voneinander verschieden, so ist ihr Abstand dazu bestimmt, jene vorspringenden Teile des Bauwesens aufzunehmen. Dazu gehören außer Gesimsen, Balkonen und Erkern, Fundamentabsätzen und Kellerhälsen auch Fensterumrahmungen, Portale, Risalite, ganze Freitreppen oder einzelne Treppenstufen, Lichtschächte, Sitzplätze, erhöhte oder vertiefte Vorplätze, endlich offene oder eingefriedigte Vorgärten. Die Straßenfluchtlinie begrenzt die eigentliche öffentliche Verkehrsfläche, die Baufluchtlinie bezeichnet die aufgehende Vorderwand des eigentlichen Gebäudekörpers. Am verbreitetsten ist diejenige Trennung von Bau- und Straßenfluchtlinie, nach der zwischen beiden ein Vorgarten, an einer Häuserreihe also eine Reihe von Vorgärten liegt. Damit die Bepflanzung möglich ist, muß der Abstand beider Linien wenigstens 2 m betragen; besser ist ein Abstand von 46 m; noch schöner ist bei guter Pflege der Vorgärten ein Abstand von 812 m; ausnahmsweise kommen Vorgartentiefen von 15 m und mehr vor. Auf dem europäischen Kontinent werden die Vorgärten fast durchweg eingefriedigt, d.h. die Straßenfluchtlinie wird durch eine Einfassung aus Holz, Stein oder Eisen gebildet, die durchbrochen sein muß, um den Einblick in die Vorgärten zu gestatten; dies ist nötig, damit der Zweck derselben, nicht bloß den Luft- und Lichtraum der Straße zu vergrößern, sondern auch sowohl die Wohnungen als die Straßen zu verschönern, in sachgemäßer Weise erfüllt werde. Aus diesem Grunde sind niedrige Einfassungen den hohen vorzuziehen. In England mitunter, in Nordamerika fast allgemein, findet man die Vorgärten als freie, uneingefriedigte Gartenstreifen behandelt, was schönheitlich zweifellos den Vorzug verdient. Die Sorge vor Zerstörung oder Beschädigung, vor Verunreinigung und nächtlicher Unsicherheit macht bei uns die Einfriedigung fast unentbehrlich; meist wird die Errichtung einer Einfassung in Straßenfluchtlinie von bestimmter Mindest- und Größthöhe und in näher angegebener Herstellungsart polizeilich vorgeschrieben.
Auch bei Abtrennung der Straßenflucht von der Bauflucht kann das Vortreten gewisser Nebenteile der Gebäude vor die Straßenfluchtlinie nicht verhütet werden. Schilder, Laternen, Verkaufszeichen (Barbierbecken, Stiefel, Handschuhe u.s.w.), Wirtshauszeichen, Blenden, Fahnenstangen, Vordächer u.s.w. können in ihrem Vorsprung vor die selbständige Straßenfluchtlinie zwar erheblich mehr eingeschränkt werden als im Vorsprung vor die Baufluchtlinie; jedoch eine völlige Fernhaltung derartiger Privateinrichtungen aus dem Lufträume über der öffentlichen Verkehrsfläche ist nicht tunlich, aber auch nicht nötig, ja nicht einmal wünschenswert. Uebertreibungen vermag die Polizei von Fall zu Fall zurückzuweisen.
Die rückwärtige oder hintere Baufluchtlinie bezeichnet die Grenze, bis zu welcher die Rückseiten der Gebäude in das Innere des Baublocks hineintreten dürfen. Die Anwendung ist leider selten. Fast allgemein begnügt man sich damit, das zulässige Größtmaß des Behauens städtischer Grundstücke in der Horizontalebene durch die Anordnung festzusetzen, daß gewisse Prozentsätze der Grundstücksfläche von der Ueberbauung frei zu halten und gewisse Mindestabstände der mit notwendigen Fenstern versehenen Außenwände von der Grundstücksgrenze oder von andern Gebäuden innezuhalten sind; auch wird eine solche Festsetzung im allgemeinen als ein ausreichender Schutz der öffentlichen und privaten, vorwiegend gesundheitlichen Interessen anerkannt werden können.
Dennoch gibt es manche Fälle, z.B. bei Baugrundstücken, die mit der Rückseite an öffentliche Gewässer stoßen, bei kleinen Baublöcken, die für Arbeiterwohnungen, bei großen Baublöcken, die für Bürgerhäuser oder Landhäuser mit Gärten bestimmt sind, wo die Festsetzung einer rückwärtigen Baufluchtlinie allein geeignet ist, allgemeine Nachteile abzuhalten, oder doch in einer mehr gesicherten Weise das Ziel erreicht. An das öffentliche Gewässer sollen z.B. die Baulichkeiten nicht unmittelbar herantreten, um die Verunreinigung des Wassers, die Verunstaltung der Ufer zu verhüten, die Schönheit des Anblicks zu erhalten. Die Arbeiterwohnungen z. B in einem von Straße zu Straße nur 36 m tiefen Block sollen dadurch in bezug auf Licht und Luft gesichert werden, daß in der Mitte des Blocks ein 12 m breiter Streifen unbebaut bleibt. Im Innern eines für Bürgerhäuser oder Landhäuser bestimmten Blocks soll eine geräumige Fläche für die aneinander stoßenden Gärten frei gehalten werden. In diesen und ähnlichen Fällen ist die Festsetzung einer hinteren Baufluchtlinie zweckmäßig; sie gibt bei dem Gewässer das Maß an, um das die Baulichkeiten vom Wasserspiegel entfernt bleiben müssen; sie schreibt im genannten Arbeiterblock vor, daß die Tiefe der Häuser zwischen der vorderen und hinteren Front nur 12 m betragen darf; sie bezeichnet im Wohnblock die Gartengrenze, d.h. die innere Linie, bis zu der die Gebäude in den Block hineintreten dürfen.
Abweichend von der hinteren Baufluchtlinie, die ihrer Bestimmung nach die nicht zu überschreitende Grenze bezeichnet, an welche die Baulichkeiten herantreten dürfen, wird die vordere Baufluchtlinie meist als die nicht zu überschreitende Grenze angesehen, an welche die Bauten herantreten müssen. Dies trifft jedoch nur bedingt bei Baufluchtlinien für geschlossene Bebauung (s. Bd. 1, S. 639) zu, während es für offene Bebauung, d.h. für eine Häuserreihe mit seitlichen Zwischenräumen, unzutreffend ist. Bei letzteren ist den Häusern nur erlaubt, bis an die Baufluchtlinie heranzutreten; es ist nicht geboten, sie dürfen vielmehr beliebig hinter der Baulinie zurückbleiben. Bei geschlossener Häuserreihe ist das Zurücktreten nur dann zulässig, wenn die Bebauung so erfolgt, daß kahle, von der Straße sichtbare Brandgiebel vermieden werden.
[97] Fluchtlinien werden nicht bloß festgesetzt für neu herzustellende oder neu zu bebauende Straßen, sondern auch für alte Straßen; letzteres, wenn aus Gründen des Verkehrs oder der Gesundheit die Erbreiterung der Straße nötig ist. Die Fluchtlinien liegen alsdann hinter der bestehenden Straßengrenze und bedeuten die Grenzlinien, bis zu welchen die an Stelle von Altbauten tretenden Neubauten zurückgesetzt werden müssen, um die allmähliche Erbreiterung der Straße herbeizuführen. Auch die Veränderung der Altbauten vor der Fluchtlinie ist behufs sicherer Erreichung des Zieles in der Regel untersagt. Die Fluchtlinien werden entweder gerade gezogen oder gekrümmt; letzteres nicht bloß bei alten Straßen, sondern auch bei neu anzulegenden Straßen. Der Grund für die Krümmung ist entweder ein praktischer, wenn es sich darum handelt, alte Wegerichtungen zu verfolgen oder gegebene Grundstücksgrenzen zu berücksichtigen, oder ein ästhetischer, wenn beabsichtigt wird, das Einerlei der geraden Linien zu unterbrechen. Die krumme Fluchtlinie hat vor der geraden den Vorzug, daß die Häuserreihe dem Wandernden stets andre Bilder vorführt und das Straßenbild auch für den Stehenden mannigfaltiger erscheint. Dies gilt jedoch, streng genommen, nur für die konkave Krümmung, während auf der gegenüberliegenden konvexen Seite die Gebäude sich dem Anblick noch mehr entziehen als in der geraden Linie. Die einander gegenüberliegenden Fluchtlinien einer Straße werden entweder einander parallel gezogen, was die Regel ist, oder ihr Abstand ist ein wechselnder. Letzteres ist besonders bei alten Straßen der Fall, wird aber nicht selten auch bei neuen Straßenanlagen aus praktischen Gründen beliebt, um Eigentümlichkeiten der Oertlichkeit zu berücksichtigen, oder aus ästhetischen Gründen, um das Straßenbild mannigfaltiger zu gestalten, Ausblicke zu eröffnen und sonstige künstlerische Eindrücke hervorzurufen.
Literatur: Baumeister, R., Stadterweiterungen in technischer, wirtschaftlicher und baupolizeilicher Beziehung, Berlin 1876; Sitte, C., Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen, Wien 1889; Stübben, J., Der Städtebau, in Handbuch der Architektur, Darmstadt 1890; Ders., Der Bau der Städte in Geschichte und Gegenwart, Berlin 1895; Ders., Hygiene des Städtebaues, in Handbuch der Hygiene von Th. Weil, Jena 1896.
Stübben.
http://www.zeno.org/Lueger-1904.