- Kristall
Kristall, ein chemisch und physikalisch einheitlicher Körper von gesetzmäßiger äußerer geometrischer Form und gesetzmäßigem inneren Aufbau.
Die Natur eines Kristalles wird, im Gegensatz zum amorphen oder gestaltlosen Körper, im wesentlichen durch die dem festen Körper eigentümliche Anordnung seiner kleinsten Teilchen bedingt. Die Kristallform selbst ist nur der äußere Ausdruck dieser inneren gesetzmäßigen Anordnung der kleinsten Teilchen. Sie kann bei einem kristallisierten Körper fehlen, ohne daß er dadurch seine Kristallnatur verliert.
Das physikalische Gesamtverhalten ändert sich im Kristall mit der Richtung, z.B. Wärmeleitung, Wellenbewegung, Lichtbrechung, Elastizität, Kohärenz u.s.w.; im amorphen Körper, z.B. im Glas, sind diese Erscheinungen nach allen Richtungen gleich. Gerät eine feste einheitliche Substanz durch irgend eine chemische Veränderung oder Umwandlung in die Hohlform eines früheren Kristalles, so entsteht ein Afterkristall oder eine Pseudomorphose.
Ein allseitig ausgebildeter Kristall wird von meist ebenen Flächen begrenzt, die paarweise vorhanden sind. Jede Fläche bildet mit der Nachbarfläche einen bestimmten, nur dieser kristallisierten Substanz zukommenden Winkel. Die Größe des Winkels zweier Kristallflächen bildet in vielen Fällen ein Erkennungszeichen für die Substanz und sogar für ihre chemische Beschaffenheit.
Die äußere Kristallform und damit auch die ihr entsprechende innere Anordnung der kleinsten Teilchen wird im wesentlichen gegliedert nach der Lage der Flächen im Raum. Hierfür sind die Zahl und Lage derjenigen Ebenen im Kristall maßgebend, nach denen dieser symmetrisch aufgebaut ist. Die Schnittlinien der Symmetrieebenen bezeichnen alsdann die Achsen eines Kristalles, und die einzelnen Kristallflächen erhalten einen gewissen mathematischen Ausdruck (Flächenausdruck, Symbol) ihrer Lage zu diesen Achsen in der Größe der Abschnitte (Parameter), welche die Flächen bei ihrer Verlängerung bis zum Schnittpunkt mit den Achsen ergeben.
Nicht alle Kristalle besitzen die Flächen, die nach ihrer Symmetrie vorhanden sein müßten, sind also nicht holoedrisch oder vollflächig; ein geringerer Teil von Kristallen zeigt eine gewisse unsymmetrische, aber immerhin regelmäßige Ausbildung, indem an ihm Flächen, wohl desselben Systems, nicht aber derselben Formengruppe erscheinen. Solche Kristalle nennt man halbflächig oder hemiedrisch; so z.B. bildet das Tetraeder die hemiedrische Form des Oktaeders.
Auf Grund der Symmetrieverhältnisse können 6 Kristallsysteme unterschieden werden, die insgesamt 32 Kristallklassen zulassen, wenn die hemiedrischen, tetartoedrischen u.s.w. Formen berücksichtigt werden. Es sind:
[709] I. Reguläres, tesserales System mit drei aufeinander senkrecht stehenden, gleichlangen Achsen. Grundform: Oktaeder mit neun Symmetrieebenen. Mit einer vollflächigen, drei hemiedrischen und einer tetartoedrischen Klasse.
II. Hexagonales System mit einer Hauptachse und drei gleichlangen, in einer senkrecht zur Hauptachse liegenden Ebene angeordneten, unter 60° sich schneidenden Nebenachsen. Grundform: sechsseitige Doppelpyramide, mit sieben Symmetrieebenen; mit einer vollflächigen, fünf hemiedrischen, fünf tetartoedrischen und einer ogdoedrischen Klasse.
III. Quadratisches System mit drei aufeinander senkrecht stehenden Achsen, von denen zwei gleichlang sind. Grundform: gleichkantige, vierseitige Doppelpyramide, mit fünf Symmetrieebenen, mit vier hemiedrischen und zwei tetartoedrischen Klassen.
IV. Rhombisches System mit drei aufeinander senkrecht stehenden, ungleichlangen Achsen. Grundform: ungleichkantige, vierseitige Doppelpyramide, mit drei Symmetrieebenen, zwei hemiedrischen Klassen.
V. Monoklines System mit drei ungleichen Achsen, von denen zwei aufeinander senkrecht stehen. Grundform: vierseitige, ungleichkantige Doppelpyramide und schiefe Basis, mit einer Symmetrieebene; zwei hemiedrische Klassen.
VI. Triklines System mit drei ungleichen unter spitzem Winkel zueinander geneigten Achsen. Grundform: ungleichkantige vierseitige Doppelpyramide mit nicht in einer Ebene liegenden Mittel- oder Basiskanten, ohne Symmetrieebene; eine hemiedrische Klasse.
Zu den äußeren Unregelmäßigkeiten der Kristalle gehören die sogenannten parallelen Verwachsungen, ferner die Zwillingsbildungen (Verwachsung parallel bestimmter gesetzmäßiger Flächen), weiter Aufwachsungen fremder Kristalle, Aetzfiguren (der äußeren Kristallform entsprechende hohle Anätzungen) u.s.w.
Von besonderer Bedeutung erscheint die Tatsache, daß die physikalischen Erscheinungen der Kristalle, also alle optischen, elastischen, mechanischen, elektrischen u.s.w. Vorgänge bei den nichtregulären Kristallen in den verschiedenen Richtungen des Kristalles gesetzmäßig wechseln und daß diese Gesetzmäßigkeit mit den kristallographischen Formen in vielen Beziehungen in Einklang gebracht werden kann. Die Aenderungen in den Achsen-, Winkel- und Flächenverhältnissen der äußeren Form mit den Aenderungen in der chemischen Formel müssen ebenfalls betont werden. Sie dienen bereits in der synthetischen Chemie zum Erkennen der chemischen Verbindungen. Von dieser Tatsache aus wird die Kristallographie in der Molekularphysik in Zukunft noch eine große Wichtigkeit erlangen.
Literatur: Liebisch, Geometrische Kristallographie, Leipzig 1881; Goldschmidt, Index der Kristallformen des Mineralreiches, 3 Bde., 188691; Liebisch, Grundriß der physikal. Kristallographie, Leipzig 1895; Groth, Physikalische Kristallographie, 3. Aufl., Leipzig 1895; Linck, Grundriß der Kristallographie, 1896; Bruhns, Elemente der Kristallographie, Wien 1902.
Leppla.
http://www.zeno.org/Lueger-1904.