Gewerbehygiene

Gewerbehygiene

Gewerbehygiene. Die Schädigungen, welche durch die gewerbliche Tätigkeit des Menschen entliehen, teilen sich in solche der Umgebung eines gewerblichen Betriebs und in solche des Arbeiters. Die Aufgabe der Gewerbehygiene ist, diese Schädigungen kennen zu lernen und die Mittel anzugeben, sie zu vermeiden oder doch wenigstens zu vermindern.

Zahlreiche allgemeine Statistiken haben versucht, den schädlichen Einfluß der gewerblichen Tätigkeit zahlenmäßig nachzuweisen. Diesen allgemein-statistischen Untersuchungen fehlt jedoch durchweg die sichere Grundlage, so daß zuverlässige Schlußfolgerungen unmöglich sind, zumal da der Mensch neben den Betriebsgefahren auch anderweitigen Schädigungen ausgesetzt ist, z.B. von selten der Wohnung, des Alkohols, gelegentlicher Infektionen u.s.w. Nur durch eine Spezialstatistik bestimmter Berufsarten mit großen Zahlen kann sichere Aufklärung erwartet werden; solche sind für verschiedene Berufe vorhanden. – Diese Statistiken und die tägliche ärztliche Erfahrung haben gelehrt, daß ein schädlicher Einfluß des Gewerbebetriebs am häufigsten bedingt ist durch Verschlechterung der Luft sowohl in physikalischer als chemischer Beziehung. Viel seltener entstehen dem Arbeiter Gefahren durch Berührung mit reizenden oder ätzenden Stoffen, durch spezifische schädliche Einwirkungen auf die Sinnesorgane, wie Mangel an Licht oder zu grelles Licht auf die Augen, fortgesetzte Geräusche auf das Gehör. Schließlich ist noch als gesundheitsgefährdend in einzelnen Betrieben zu erwähnen die besondere Haltung und Ueberanstrengung des Arbeiters, andauernde Erschütterung und Aehnliches.

Die Verschlechterung der Luft im Gewerbe kann zustande kommen durch Staub, Gase, Temperatursteigerung oder -erniedrigung, Druckerhöhung und Luftbewegung.

Weitaus am häufigsten entstehen gewerbliche Schädigungen durch Staub; er kann durch seine Menge, aber auch durch seine Beschaffenheit gefährlich werden. Die Luft im Freien hat durchschnittlich etwa 1/2 mg Staub im Kubikmeter, in stäubenden Betrieben kann sie bis zu 100 und 200 mg steigen. Geringe Staubmengen werden im allgemeinen von dem Flimmerepithel der Luftröhre, soweit sie nicht schon an den feuchten Wänden der Nasen- und Mundhöhle zurückgehalten werden oder durch besondere spitze Beschaffenheit sich in die Wand einbohren, wieder nach oben und durch Hüften und Räuspern nach außen befördert. Größere [477] Mengen wirken stärker reizend, backen auch wohl je nach ihren besonderen Eigenschaften (Mehl, Zement) zusammen und können durch Verringerung der Luftzufuhr bedrohlichere Erscheinungen hervorrufen.

Bezüglich der Beschaffenheit sind die runden Staubarten, wenn sie sonst keine besonderen schädlichen Eigenschaften haben, am wenigsten gefährlich. Man erkennt diese wichtige äußere Form des Staubkorns unter dem Mikroskop schon bei relativ schwacher Vergrößerung. Schädlicher sind die Staubarten mit Häkchen und Schuppen, wie Wolle, Knochen, Holz. Ganz besonders gefährlich aber sind die scharfen Staubarten, wozu schon solche von Flachs, Jute, Hanf gehören, da sie Verletzungen der Schleimhaut hervorzubringen geeignet sind. Die schlimmsten Staubsorten sind alle Metallstäube, Steinstaub, Schmirgel, Sand, Glas, Porzellan; sie besitzen scharfe Spitzen, Ecken, Schneiden, womit sie sich tief in die Lunge einbohren können; damit wird nicht selten die Gelegenheit zur Festsetzung von Tuberkelbazillen und zur Entwicklung der Schwindsucht gegeben. Denn infektiöser, mit Tuberkelbazillen versetzter Staub ist überall vorhanden, wo Tuberkulöse sich aufhalten. Ein einziger mit tuberkulösem Lungenspitzenkatarrh behafteter Arbeiter bildet daher in staubigen Betrieben, zumal in solchen mit spitzigem Staub, z.B. in der Steinhauerei, eine ganz besondere Gefahr. Aus diesem Grund sollten Tuberkulöse – ganz abgesehen von dem eignen Interesse – von staubigen Betrieben ferngehalten werden. Ein zweiter infektiöser Staub kommt noch in Wollsortierereien und Bürstenfabriken vor, nämlich milzbrandbazillenhaltiger Staub; hier hilft nur vorherige Sterilisation des Materials. – Von besonders schädlichen Staubarten ist noch der Kalk, Zement, Thomasschlacke und Aetzbaryt zu erwähnen, welche ätzende Wirkung auf die Schleimhäute ausüben, ferner der Perlmutterstaub, der zu eigenartigen Knochenerkrankungen führt, und der giftige Blei- und Arsenstaub. Die Erkrankungen, welche durch nichtinfektiösen Staub hervorvorgerufen werden, bestehen in der Hauptsache aus Katarrhen der Respirationsorgane und akuten und chronischen Entzündungen derselben.

Die Mittel zur Verhinderung derselben bestehen vor allen Dingen in möglichster Vermeidung des Staubs. Wo z.B. nasser Betrieb möglich ist, wie in verschiedenen Schleifereien, ist dieser zu wählen. Erscheint ein solcher Ausweg nicht möglich, so ist der Staub an der Entstehungsstelle abzusaugen. Erst in dritter Linie kommt die Erstellung einer guten allgemeinen Ventilation des Arbeitsraumes. Ein nach richtigen Grundsätzen durchgeführter Staubschutz ist eines der wichtigsten Vorbeugungsmittel gegen Tuberkulöse, die derzeit verheerendste Krankheit unsrer erwachsenen Bevölkerung, insbesondere der Arbeiterbevölkerung. – Von geringer Wirkung sind die Respiratoren; sie behindern allzusehr die Atmung, erschweren dadurch die Arbeit, so daß ihre Benutzung leicht umgangen wird. In einzelnen Fällen ist die Zuführung reiner Luft unter Anwendung des Rauchhelms, der mit einem Pergamentschlauch verbunden ist, möglich und hat sich gut bewährt. Vgl. Entstaubungsanlagen, Lüftung.

Die im Gewerbebetrieb zu beobachtenden die Luft verschlechternden Gase sind sehr mannigfaltiger Art und können hier nicht alle aufgezählt werden. Sie sind teils vorwiegend ätzender, teils giftiger Natur.

Zu den ersteren gehören die Gase von Chlor, Brom und Jod und deren Wasserstoffsäuren; ferner die schweflige Säure, das Ammoniak, die »nitrosen Gase«, bestehend aus einem Gemisch von salpetriger Säure und Untersalpetersäure. Letztere sind jedoch weit mehr ihrer intensiven giftigen Eigenschaften wegen gefährlich.

Von den vorwiegend giftigen Gasen sind die Metalldämpfe zu nennen, so der des Quecksilbers und Bleis und der des Zinks, der das kurzdauernde Gießfieber der Gelbgießer erzeugt; ferner die Blutgifte Kohlenoxyd, Schwefelwasserstoff, der Schwefelkohlenstoff, die Dämpfe des Teers und seiner Produkte, die besonders in der Farbenindustrie beobachtet werden und den »Anilismus« hervorzurufen geeignet sind. Schließlich sollen noch die Dämpfe des Phosphors in der Zündholzindustrie, welche Zahngeschwüre und Nekrose des Unterkiefers erzeugen, die Blausäure, die Pyridinbasen und der Holzgeist erwähnt sein.

Die Schädigungen, welche der menschliche Körper bei Einatmung dieser Gase erleidet, sind verschiedene. Sie betreffen teils nur die Respirationsorgane, teils das Blut, Herz, Nervensystem, Knochen u.s.w., können auch in plötzlichem, kaum vorherzusehendem Tod bestehen.

Die Vermeidung dieser Gefahren und die Beseitigung der Gase ist nicht immer einfach. Zunächst ist, wo solche zu erwarten sind, die Fabrikanlage geräumig zu gestalten, damit dem einzelnen Arbeiter jeweils ein möglichst großer Luftraum zur Verfügung steht, eventuell auch rasche Rettung ins Freie möglich ist. Die Entstehungsstelle der Gase ist womöglich immer unter Abzüge zu verlegen; die abgezogenen Dämpfe sind auf feuchtem oder trockenem Weg zu verdichten oder chemisch zu binden oder, wenn möglich, zu verbrennen. – Die geringen Mengen schädlicher Gase, die auch bei Arbeiten unter Abzug in den Arbeitsraum entweichen, sind durch gute Ventilation zu entfernen. Ist das Arbeiten in Räumen nötig, die größere Mengen schädlicher Gase enthalten, so sollte dies nur mit Rauchkappe und Luftzuführung von außen geschehen.

Exzessive Temperaturen der Luft kommen in ganzen Betrieben oder in Teilen von solchen nicht selten in Gestalt großer Wärme vor, sei es nun durch hohe Außentemperaturen oder unzweckmäßige Heizung oder Besonderheiten des Betriebs, z.B. bei Trockenanlagen. Gegen die hierdurch drohende Gefahr des Hitzschlags und seiner Vorboten ist gute Ventilation, teilweise auch geeignete Anwendung schlechter Wärmeleiter oder das Verbot des Betretens der überhitzten Räume anzuwenden. Zu berücksichtigen ist, daß »feuchte Hitze« wesentlich gefährlicher ist als »trockene«, da sie die Wasserverdunstung von Lunge und Haut und damit die Wärmeregulierung des menschlichen Körpers erheblich behindert.

Den schädlichen Einflüssen niederer Temperaturen, die zu »Erkältungskrankheiten« Anlaß geben, ist durch entsprechende Kleidung oder Heizung zu begegnen. Auch bei Arbeiten in stark bewegter Luft ist die richtige Bekleidung das hauptsächliche Hilfsmittel..

Die bei Caissonarbeitern nötige Arbeit unter erhöhtem Luftdruck (vgl. Preßluftgründung)[478] ist an sich nicht schädlich; nur ist darauf zu achten, daß der Uebergang von einem Luftdruck in den andern langsam erfolgt und daß nur Arbeiter mit gesundem, auch durch Alkoholgenuß nicht geschwächtem Herzen (Katzenjammer!) verwendet werden, da bei Außerachtlassung dieser Vorschrift plötzliche Todesfälle möglich sind.

Das Hantieren mit ätzenden Stoffen bedingt Entzündungserscheinungen auf der Haut, namentlich an den Händen und Vorderarmen, und wird gefunden bei Arbeitern, die in Berührung kommen mit Teer, Zucker, Ruß, den Aetzalkalien, Chinin, Anilin und seinen Derivaten, Chromsäurepräparaten u.a.m. Abhilfe schaffen Gummihandschuhe, oft auch schon Einreiben der Hände mit Fett vor Inangriffnahme der Arbeit. Stets ist größtmögliche Reinlichkeit zu beachten.

Dasjenige Sinnesorgan, das im Gewerbebetrieb am meisten Schädigungen ausgesetzt ist, ist das Auge. In erster Linie kommt hier die Beleuchtung des Arbeitsplatzes in Betracht. Bei einigermaßen feinerer Handarbeit ist für den Arbeitsplatz eine Lichtstärke von wenigstens 10 Meterkerzen dringendes Erfordernis. Das Licht soll von links oder oben einfallen und durch gestrichene Scheiben nicht behindert werden; um eine stets gleichmäßige Belichtung zu erhalten, empfiehlt es sich, die Fensterseite nach Nordwesten bis Nordosten zu wählen. Für die Wahl der künstlichen Beleuchtung haben dieselben Grundsätze Anwendung zu finden.

Der Reinhaltung der Fenster und Beleuchtungskörper ist besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden, da der Staub erhebliche Lichtmengen zu absorbieren geeignet ist. Mechanische Verletzungen des Auges durch Funken, Splitter, ätzende Stoffe und Aehnliches sind durch geeignete Bullen auszuschließen.

Das Gehör kann durch andauernde heftige Geräusche, wie sie in Schmieden und Stampfwerken vorkommen, geschädigt werden. Gemildert wird diese Wirkung durch hohe und weite Arbeitsräume und Anbringung schallabschwächender Unterlagen.

Geruch und Geschmack werden durch den gewerblichen Betrieb seltener beeinträchtigt und können durch Ventilation und Mundpflege geschützt werden.

Durch besondere Inanspruchnahme einzelner Körperteile können lokale Schwielen und Entzündungen oder sonstige Wachstumsstörungen entstehen, wie z.B. die Trichterbrust bei den Schuhmachern. Auch Krämpfe und Lähmungen einzelner Muskelgruppen werden beobachtet, z.B. bei Schreibern, Setzern, Klavierspielern. Schließlich kann jede Ueberanstrengung zu vorübergehender oder dauernder Schädigung des Herzens, des Nervensystems und überhaupt des ganzen Organismus führen. Um derartigen Vorkommnissen vorzubeugen, ist vor allen Dingen eine sachgemäße Auswahl und eine gründliche und verständige Ausbildung des Arbeitspersonals und richtige Regelung der Arbeitszeit nötig. Einer günstigen Lebenshaltung des Arbeiters außerhalb der Betriebsstätte ist durch die Mittel der allgemeinen Hygiene, wie Wohnungspflege und sonstige Wohlfahrtseinrichtungen, Bekämpfung der Tuberkulose, des Alkoholismus und der Syphilis Vorschub zu leisten. Nach Möglichkeit ist das Familienleben zu fördern und insbesondere Frauen- und Kinderarbeit gesundheitlich zu überwachen.

Nicht bei allen Betrieben ist es möglich, eine Belästigung oder Schädigung der Anwohner auszuschließen. Es erscheint daher auch im Interesse der Industrie gelegen, ihr besondere Ortsteile anzuweisen, in denen ihr die größtmögliche Freiheit gelassen werden kann.

Die Belästigung und Gefährdung der Umgebung von Gewerbebetrieben wird hervorgerufen durch schlechte Gerüche, starke Geräusche, Rauch und Ruß und Verunreinigung der Gewässer durch die Abwässer (s. Flußverunreinigung).

Ein nicht überall zur Gewerbehygiene gerechnetes Gebiet betrifft die Unfallverhütung (s.d.). Die Statistik ergibt, daß die Zahl der Unfälle im allgemeinen gestiegen ist. Es rührt dies wohl daher, daß seit Inkrafttreten der Unfallversicherung jeder, auch der kleinste Unfall zur Anzeige kommt und daß vielfach nicht genügend vorgebildetes Personal zur Einstellung gelangt. Die weitaus größte Zahl der Unfälle wird verursacht durch Maschinen, Transmissionen und Explosionen. Durch geeignete Schutzvorkehrungen an den ersteren, Verbesserung der Werkzeuge, gute Kesselkonstruktionen, sachgemäße Kesselüberwachung, abgeänderten Bau der Arbeitsstätte und wirksame Ventilationen wird diesen Gefahren vorgebeugt. Stets ist jedoch darauf Rücksicht zu nehmen, daß die Schutzvorkehrung die Arbeit nicht erschwert, da sie sonst bei mangelnder Ueberwachung von dem Arbeiter beseitigt wird.

Rücksichten auf die Gewerbehygiene und den Arbeiterschutz sind sowohl bei der Gesetzgebung als auch bei zahlreichen Polizeiverordnungen genommen worden, so insbesondere in der Gewerbeordnung für das Deutsche Reich und in dieser namentlich bei dem § 120 a–e.


Literatur: Roth, Kompendium der Gewerbekrankheiten, Berlin 1904; Rambousek, Lehrbuch der Gewerbehygiene, Wien und Leipzig 1906; Sommerfeld, Der Gewerbearzt, Jena 1905. Ferner die Hand- und Lehrbücher der Hygiene, z.B. von Th. Weyl, M. Rubner, A. Gärtner. Ferner Schicker, Die Gewerbeordnung für das Deutsche Reich, 4. Aufl., Stuttgart 1901.

Scheurlen.


http://www.zeno.org/Lueger-1904.

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