- Graphische Tafel
Graphische Tafel, auch Abakus (franz. abaque), oder Rechenblatt, oder Nomogramm genannt, heißt jede geometrische Darstellung einer Funktion von zwei oder mehreren Veränderlichen durch Reihen bezifferter Elemente (Punkte, Geraden oder Kurven), welche ebenso wie eine Zahlentafel (numerische Tabelle) den Zweck hat, zu gegebenen Werten der Veränderlichen die Werte der Funktion zu liefern. Gut konstruierte graphische Tafeln erfüllen ihren Zweck besser als numerische, weil bei ihnen das Interpolieren wegfällt bezw. durch das leichter und schneller ausführbare Schätzen mit dem Auge ersetzt wird; sie gewähren einen guten Ueberblick, lassen sich absolut fehlerfrei, in der Regel auch leichter als numerische Tafeln, herstellen und sind oft noch anwendbar, wo letztere, weil sie zuviel Raum einnehmen würden oder die Zahl der Veränderlichen zu groß ist, den Dienst versagen.
Eine Funktion z = f(x, y) wird am einfachsten dargestellt, indem man die Schnitte der Fläche z = f(x, y) mit einer Reihe wagerechter Ebenen, deren Höhen z0, z1, z2... sein mögen, im Grundriß zeichnet und an jede der erhaltenen Kurven, welche nach Vogler [2] Isoplethen genannt werden, den betreffenden Wert von z anschreibt. Ist dann ein bestimmtes Wertepaar x = a, y = b gegeben, so wird der zugehörige Funktionswert f(a, b) an der durch den Punkt (a, b) gehenden Isoplethe abgelesen. Durch Einführung neuer Koordinaten, bezw. dadurch, daß man ungleichmäßig geteilte Achsenmaßstäbe annimmt, lassen sich oft krummlinige Isoplethen in geradlinige verwandeln, was Lalanne, von dem dieser Gedanke herrührt, Anamorphose genannt hat [1]. Damit dieselbe möglich sei, muß die Funktion f (x, y) einer gewissen partiellen Differentialgleichung genügen, welche Lecornu aufgestellt und allgemein integriert hat [3].
Ist z.B. z = a xm yn, so genügt es, x und y mit einem logarithmischen Maßstabe aufzutragen, denn durch Logarithmieren erhält man log z = m log x + n log y + log a, welche[614] Gleichung in log x und log y linear ist, also, falls letztere Größen zu Koordinaten eines Punktes genommen werden, bei konstantem z eine Gerade vorstellt. Mitunter ist es zweckmäßig, die Isoplethen in Kreise oder andre einfache Kurven statt in gerade Linien zu verwandeln (Beispiele in [4]). Diese Art von Tafeln haben sich in technischen Werken und Zeitschriften längst eingebürgert.
Einen großen Fortschritt hat in neuerer Zeit M. d'Ocagne durch Ausbildung der zuerst von A. Adler [7] allgemein angegebenen Methode der fluchtrechten Punkte (»points alignés«) gemacht [6], [8], [9]. Jede der Veränderlichen x, y, z wird durch eine bezifferte (geradlinige oder krummlinige) Punktreihe dargestellt, und es finden sich zusammengehörige Werte der Veränderlichen stets an drei solchen Punkten, die in einer Geraden liegen. Tafeln dieser Art sind übersichtlicher, genauer, bequemer zu handhaben, leichter herzustellen und können mehr Veränderliche umfassen als die vorher besprochenen.
Zu den beliebteren Anwendungen der verschiedenen Methoden graphischer Darstellung gehören Tafeln zur mechanischen Auflösung numerischer Gleichungen. Lalanne hat solche für dreigliedrige Gleichungen angegeben [1]; M. d'Ocagne für Gleichungen mit drei und vier Gliedern [6], [8], [9]; Reuschle für Gleichungen, die bis zu vier Parameter enthalten [10]; Mehmke für Gleichungen mit bis zu sechs Gliedern [11], [12], ferner für Systeme von zwei Gleichungen mit zwei Unbekannten [13] und für Gleichungen mit komplexen Koeffizienten [12]. M. d'Ocagne hat für die Lehre von der graphischen Darstellung gesetzmäßiger Beziehungen zwischen veränderlichen Größen die Bezeichnung Nomographie (vom griechischen nomos = Gesetz) vorgeschlagen [8].
Literatur: Die ältere Theorie, ist am besten in [2] entwickelt und durch ungemein zahlreiche Beispiele erläutert. Zur Methode der fluchtrechten Punkte ist zu bemerken, daß vereinzelte Anwendungen davon zwar schon früher gemacht worden sind, vgl. [5] und [14], daß jedoch M. d'Ocagne zuerst ihre Tragweite erkannt und ihre Entwicklung, am meisten gefördert hat. Gedrängte Darstellung des ganzen Gebietes mit zahlreichen Literaturangaben in [14]. [1] Lalanne, Léon, Mémoire sur les tables graphiques et sur la géométrie anamorphique, Annales des ponts et chaussées, Mém. et documents, 1846, 1er semestre, S. 1. [2] Vogler, Chr. A., Anleitung zum Entwerfen graphischer Tafeln und zu deren Gebrauch beim Schnellrechnen sowie beim Schnellquotieren mit Aneroid und Tachymeter, Berlin 1877. [3] Lecornu, Sur le problème de l'anamorphose, Comptes rendus de l'académie des sciences de Paris, 1886, Bd. 102, S. 813. [4] Helmert, Ueber graphische Tafeln mit zwei Eingängen, Zeitschr. f. Vermessungswesen 1876, S. 24. [5] Ganguillet u. Kutter, Zeitschr. d. österr. Ing.- u. Arch.-Vereins 1869, Taf. 9, Fig. 8; s.a. Handbuch d. Ingenieurwissenschaften, Bd. 3, 1. Abt., Taf. 4. [6] d'Ocagne, M., Procedé nouveau de calcul graphique, Annales des ponts et chaussées, Mémoires et documents, 1884, 2me semestre, S. 531. [7] Berichte der Wiener Akademie, 1886, Bd. 94, 2. Abt., S. 404. [8] d'Ocagne, M., Nomographie, les calculs usuels effectués an moyen des abaques, Paris 1891; vollständig neu bearbeitet unter dem Titel Traité de Nomographie, Paris 1899. [9] Ders., Le calcul simplifié, Paris 1894; 2. Aufl., Paris 1905. [10] Reuschle, C., Graphischmechanische Methode zur Auflösung der numerischen Gleichungen, Stuttgart 1884. [11] Mehmke, R., Neue Methode, beliebige numerische Gleichungen mit einer Unbekannten graphisch aufzulösen, Civilingenieur 1889, Bd. 35, S. 617. [12] Katalog mathematischer ... Modelle ..., im Auftrag der Deutschen Mathematikervereinigung herausgegeben von W. Dyck, Nachtrag, München 1893, S. 10 u. 16. [13] Mehmke, R., Neues Verfahren zur Bestimmung der reellen Wurzeln zweier Gleichungen mit zwei Unbekannten, Zeitschr. f. Mathem. u. Physik 1890, Bd. 35, S. 174. [14] Encyklopädie d. mathem. Wissensch., Leipzig 1902, Bd. 1, 2. Teil, S. 1024.
Mehmke.
http://www.zeno.org/Lueger-1904.