- Chlor
Chlor Cl, Atomgew. 35,5, spez. Gew. (Luft = 1) 2,45, bei gewöhnlicher Temperatur und normalem Drucke ein gelbgrünes Gas von eigenartigem Gerüche, durch einen Druck von 4 Atmosphären bei gewöhnlicher Temperatur oder durch Abkühlung auf unter 40° bei gewöhnlichem Drucke zu einer gelben, durchsichtigen Flüssigkeit verdichtbar; bei 102° wird es fest und kristallisiert. Seine kritische Temperatur ist 146°. Es löst sich leicht in Wasser; die gesättigte wässerige Lösung (das Chlorwasser) erstarrt in einer Kältemischung zu einer Kristallmasse der Zusammensetzung Cl2 + 8H2O, dem sogenannten Chlorhydrat. Das Chlorwasser zersetzt sich, besonders unter Einwirkung auch des zerstreuten Sonnenlichts, unter Sauerstoffabgabe: H2O + Cl2 = 2HCl + O; unter Lichtabschluß in kühlen Räumen aufbewahrt, hält es sich lange unverändert.
Chlor geht mit allen Grundstoffen, mit den meiden unter bedeutender Energieentwicklung, chemische Verbindungen ein. In vielen Punkten gleicht es dem Sauerstoffe, so besonders darin, daß es selbst nicht brennt, aber die Verbrennung fast aller in Sauerstoff brennbaren Körper unter Bildung von Chloriden ebenfalls unterhält. Es übertrifft den Sauerstoff an Energie insofern, als es schon bei gewöhnlicher Temperatur stark chlorierend und bei Gegenwart von Wasser auch oxydierend wirkt. So greift es schon in verdünntem Zustande, als Gas sowie als Flüssigkeit alle organischen Stoffe, tierische und pflanzliche Gewebe, Farbstoffe u.s.w. energisch an; es ist daher ein starkes Gift, besonders für niedere Tiere und Pflanzen. In der Natur kommt es in freiem Zustande nicht vor, findet sich aber in den zahlreichen, in mächtigen Lagern auftretenden Chloriden, von denen für die technische Chlorgewinnung hauptsächlich die des Natriums (s. Salz) und des Magnesiums in Betracht kommen. Das erstere dient zwar zunächst zur Sodafabrikation; doch werden bei dieser Verarbeitung andre Chloride, wie Salzsäure (HCl), Calciumchlorid (CaCl2) und Magnesiumchlorid (MgCl2) erhalten, deren Verwertung für die meisten Sodafabriken eine Lebensfrage ist. Dazu tritt ferner das Bedürfnis der Verwertung der großen Mengen von Magnesiumsalzen, die in Staßfurt und andern Kalisalinen der Provinzen Sachsen und Hannover neben den Kalisalzen gewonnen werden. Schließlich kommt noch für die Chlorgewinnung die Zersetzung von Alkalichloriden durch die Elektrolyse in Betracht. Mit Ausnahme der letzten Arbeitsweise beruhen alle übrigen Prozesse der Chlorgewinnung auf einer Oxydation der in den Chloriden an Chlor gebundenen Stoffe: 2HCl + O = H2O + Cl2 und MgCl2 + O = MgO + Cl2. Für diese Oxydationsprozesse wurde anfangs nur der Sauerstoff des Mangansuperoxydes (Braunstein, Pyrolusit) MnO2, später der Sauerstoff der Luft benutzt. Die älteste Arbeitsweise entsprach also dem durch folgende Formel dargestellten Vorgange: 4HCl + MnO2 = MnCl2 + 2H2O + Cl2. Daß anfangs auch statt der Salzsäure ein Gemisch von Kochsalz und Schwefelsäure benutzt wurde, ändert an dem durch diese Formel ausgedrückten Prinzipe nichts, denn durch die Schwefelsäure wird ja aus dem Kochsalze Salzsäure entwickelt. Als Apparate dienten je nach dem Umfange des Betriebes entweder Steinzeuggefäße, gußeiserne Kessel mit Bleihauben oder aus dichtem Sandsteine mit Teertonkitt gemauerte Behälter. Eine Zusammenstellung und kritische Besprechung der Apparate und Arbeitsmethoden findet sich in [1].
Die erste Abweichung von diesem bereits von Scheele 1774 angegebenen Verfahren bestand in der Wiedergewinnung des Mangandioxydes aus den Manganchlorürlaugen, so daß jenes wieder zur Chlorentwicklung tauglich wurde der erste Schritt zur Nutzbarmachung des Sauerstoffs der Luft , durch Weldon: die Manganchlorürlaugen wurden gleichzeitig mit einem Ueberschusse von gelöschtem Kalk und Luft behandelt. Ein Teil des Calciumoxydhydrates wird dabei zur Abscheidung von Manganoxydulhydrat verbraucht, letzteres wird durch den Sauerstoff der Luft zu Mangandioxyd oxydiert und bildet mit dem andern Teile Kalk ein manganigsaures Salz (Manganschlamm, Weldonschlamm, Chlorbereitungsrückstände), ein Vereinigungsprodukt von[442] Mangandioxyd und Kalk, das nun wieder bei der Behandlung mit Säuren Chlor liefern kann. Folgende Formeln erklären die Vorgänge:
MnCl2 + Ca(OH)2 = CaCl2 + Mn(OH)2; Mn(OH)2 + O = MnO2 + H2O;
MnO2 + Ca(OH)2 = CaMnO3 + H2O; CaMnO3 + 6HCl = CaCl2 +MnCl2 + 6H2O + Cl2.
Nach Einführung der Braunsteinregeneration nach Weldon bestand der Chlorgewinnungsprozeß also schon in einer Oxydation der Salzsäure durch den Sauerstoff der Luft unter Vermittlung von Manganverbindungen. Aber bei diesem sogenannten Weldon-Prozeß mußte man auf jedes Molekül Chlor Cl2 eine gleich große Menge Chlor als wertloses Chlorid CaCl2 verloren geben. Dies möglichst zu vermeiden, ist das Kennzeichen der neueren Chlorgewinnungsprozesse. Zu denselben gehört zunächst der Deacon-Prozeß, nach dem Salzsäure durch Luftsauerstoff unter Vermittlung von Kupferverbindungen oxydiert wird. Zu diesem Zwecke wird über mit Kupferchloridlösung getränkte Ziegelsteinbrocken ein erhitztes Gemisch von Salzsäure und Luft geleitet. Durch wiederholte Zersetzung und Rückbildung des Kupferchlorides erhält man Chlor und Wasser. Das Verfahren hat nur beschränkte Anwendung gefunden. Von den weiteren Verfahren dieser Art, unter deren Erfindern die mit der Soda- und Chlorindustrie schon lange eng verknüpften Namen Weldon, Solvay, Mond u.a. hervorragen, sei noch auf das Weldon-Pechiney-Verfahren hingewiesen, das die Chlordarstellung aus Chlormagnesiumlaugen ermöglicht. Die Bemühungen, aus diesen bei vielen anorganischen Betrieben als Abfallprodukte auftretenden Laugen Chlor herzustellen, sind außerordentlich zahlreich gewesen. Von großem Erfolge war bis jetzt noch keines dieser Verfahren begleitet.
Das nach dem einen oder andern Verfahren erhaltene Chlor wird nun entweder in Chlorate (s. Kaliumchlorat u.a.), Hypochloride (s. Chlorkalk, Chlornatron u.a.) oder durch Druck und Abkühlung in flüssiges Chlor übergeführt und in diesen Formen in den Handel gebracht. Es findet als Bleich- und Desinfektionsmittel die ausgedehntere Anwendung; in der chemischen Industrie dient es als Chlorierungs- und kräftiges Oxydationsmittel. Als Bezugsquellen für diese Chlorprodukte sind in erster Linie die Sodafabriken zu nennen, auch Ammoniaksodafabriken beteiligen sich schon an der Konkurrenz. Flüssiges Chlor wird in den Preislisten vieler chemischen Fabriken zu 1,502 ℳ. pro Kilogramm (in eisernen Flaschen) geführt. Das Chlor wurde 1774 durch Scheele entdeckt, seine Natur als Grundstoff aber erst 1810 von Davy festgestellt.
Literatur: [1] Lunge, Handbuch der Sodaindustrie, 2. Aufl., 3 Bde., Braunschweig 189396 (Chlor besonders in Bd. 3). [2] Stohmann und Kerl, Encyklop. Handbuch der techn. Chemie, 4. Aufl., Braunschweig 1889. [3] Wagner-Fischer, Handbuch der chem. Technologie, 14. Aufl., Leipzig 1893. [4] Schultz, G., Lehrbuch der ehem. Technologie, Stuttgart 1903.
Bujard.
http://www.zeno.org/Lueger-1904.