Cremonascher Kräfteplan

Cremonascher Kräfteplan

Cremonascher Kräfteplan. Die in den Stäben eines ebenen Fachwerks bei gegebener Belastung auftretenden Kräfte werden in der graphischen Statik vielfach dadurch bestimmt, daß man für jeden Knotenpunkt mittels eines Kräftepolygons Gleichgewicht zwischen den daselbst zusammentreffenden äußeren und inneren Kräften herstellt. Diese Kräftepolygone bilden in ihrer Gesamtheit eine einheitliche Figur, die man, da das Verfahren von Professor L. Cremona wissenschaftlich begründet worden ist, einen Cremonaschen Kräfteplan nennt.

Man beginnt die Zeichnung damit, daß man, dem Umfange des Fachwerks folgend, die gegebenen äußeren oder angreifenden Kräfte zu einem geschlossenen Kräftepolygon zusammensetzt. Hierauf schreitet man, an einem Ende des Fachwerks beginnend, von Knotenpunkt zu Knotenpunkt vorsetzt an jedem Punkte die bereits bekannten Kräfte zusammen und zerlegt deren Mittelkraft nach den Richtungen der unbekannten Kräfte. Hierbei ist darauf zu sehen, daß jeweils nur zwei unbekannte Stabkräfte vorkommen, was bei regelmäßigen Fachwerken immer möglich ist. Am Schlusse der Arbeit ergibt sich stets eine Probe für die Richtigkeit derselben, weil das Kräftepolygon für den letzten Knotenpunkt sich als ein geschlossenes erweisen muß. Will der Schluß nicht stimmen oder wünscht man schon vorher eine Kontrolle auszuüben, so berechnet man einzelne Stabkräfte nach dem Momentenverfahren. Aus dem Richtungssinne der äußeren Kräfte läßt sich durch Einzeichnen der Pfeilrichtungen auch der Sinn der inneren Kräfte bestimmen. – Am klarsten und einfachsten werden diese Kräftepläne, wenn bei deren Bildung dafür gesorgt wird, daß jede Gurtungskraft durch den Trennungspunkt derjenigen beiden Kräfte geht, die an den Endpunkten des betreffenden Gurtungsstabes angreifen. In diesem Falle entspricht nicht nur jedem Knotenpunkte des Fachwerks ein geschlossenes Polygon im Kräfteplan, sondern auch jedem dreieckförmigen Felde des Fachwerks ein Punkt im Kräfteplan, durch den die drei betreffenden Kräfte gehen. Wird nach dieser Regel vorgegangen, so kommt im Kräfteplan jede Kraft nur einmal vor. Bei unregelmäßigen und mehrteiligen Fachwerken ist es nicht immer möglich, diese Regel einzuhalten; manche Kräfte müssen hier parallel verschoben, d.h. zweimal aufgetragen werden. – Man verwendet Cremonasche Kräftepläne bei der statischen Berechnung der Brückenfachwerke, um den Einfluß des Eigengewichts auf sämtliche Stäbe und den Einfluß der zufälligen Last auf die Gurtungen zu ermitteln. Vorzüglich eignet sich das Verfahren zur Berechnung der gewöhnlichen Dachbinder. Auch bei der Berechnung von Bogenträgern leistet es gute Dienste.

Fig. 1 zeigt die Ansicht und den Kräfteplan eines englischen Dachstuhls mit lotrechter Belastung. Die angreifenden Kräfte – die Auflagerdrücke A und B und die sieben Lasten P – stehen zusammen im Gleichgewicht. Man zerlegt zunächst A in die Richtungen der Stäbe 12 und 13. Dann bildet man aus den vier Kräften 12, 23, 24 und P2 ein geschlossenes Polygon, indem man 12 mit P2 in Gedanken zusammensetzt und die Mittelkraft parallel zu 23 und 24[482] zerlegt. Hierauf wird im Knotenpunkte 3 Gleichgewicht hergestellt, dann im Punkte 4 u.s.w., bis man zum Punkte 13 gelangt. Der Symmetrie wegen könnte die zweite Hälfte der Zeichnung wegbleiben. Die Strebenkräfte sind im Kräftepläne durch dieselben Ziffern bezeichnet wie im Dachstuhl; die Gurtungskräfte sind alle von der Linie der P aus zu messen und tragen an ihrem andern Endpunkte die Nummer des ihnen gegenüberliegenden Knotenpunktes. Um zu wissen, ob die Stäbe gedrückt oder gezogen sind, zeichnet man in die einzelnen Kräftepolygone gleichlaufende Pfeile ein, wie es für den Punkt 6 geschehen ist und überträgt diese Pfeile in die Ansichtsfigur. Dann erkennt man, daß der Stab 65 gezogen, die Stäbe 46, 68 und 67 gedrückt sind. Die gedrückten Stäbe sind der Deutlichkeit wegen mit einem Doppelstrich versehen. – Fig. 2 zeigt den Kräfteplan desselben Dachstuhls für Windbelastung. Das linke Auflager sei fest, das rechte ruhe auf Rollen. Zunächst wird die Mittelkraft R der Windkräfte in eine lotrechte Kraft B und eine schiefe Kraft A zerlegt. Dann beginnt man im Punkte 1 mit der Bestimmung der Stabkräfte. A und W1 werden vereinigt und ihre Mittelkraft nach 12 und 13 zerlegt. Hierauf geht man zu den Punkten 2, 3, 4 u.s.w. über. Im Punkte 8 endigt die Arbeit; die Streben auf der rechten Seite bleiben spannungslos. Als Probe dient, daß die Linie, die man durch den Punkt 7 im Kräfteplan parallel zum Stabe 8 14 zieht, durch den Trennungspunkt von A und B gehen muß. – Fig. 3 stellt den Kräfteplan eines Halbparabelträgers dar. Hier sind auch die unteren Knotenpunkte belastet. Die in der Ansichtszeichnung punktierten Streben werden als nicht vorhanden angesehen. In dieser Form wird der Kräfteplan zur Ermittlung der größten und kleinsten Gurtungskräfte und zur Ermittlung der unter dem Eigengewicht auftretenden Strebenkräfte verwendet. Um die größten und kleinsten Strebenkräfte zu erhalten, hat man noch andre Zeichnungen auszuführen. – (Vgl. Fachwerke, graphische Berechnung.)


Literatur: L. Cremona, Le figure reciproche nella Statica Grafica, Milano 1872; Migotti, Die reciproken Figuren in der graphischen Statik, Zeitschr. des österr. Ingen, u. Arch.-Vereins 1873, S.230; Gutmann, Graphische Statik, 2. Aufl., Nr. 82, Zürich 1875, sowie die meisten andern Werke Über graphische Statik.

(W. Ritter) Roth.

Fig. 1.
Fig. 1.
Fig. 2., Fig. 3.
Fig. 2., Fig. 3.

http://www.zeno.org/Lueger-1904.

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