Invariantentheorie

Invariantentheorie

Invariantentheorie, die Lehre von den Eigenschaften der algebraischen Formen (s. Form), insbesondere von den durch lineare Transformation (s. Transformation) nicht zerstörbaren. Geht eine Form f durch lineare Transformation der Veränderlichen in F über, so heißt Invariante eine solche Funktion der Koeffizienten von f, die bei Ersetzung dieser Koeffizienten durch diejenigen von F sich nur um einen konstanten Faktor, nämlich um die μ te Potenz der Transformationsdeterminante ändert; μ heißt das Gewicht der Invariante. Kommen in einer Invariante auch die Veränderlichen vor, so heißt dieselbe Kovariante.

Beispiel: Zu den Formen f0 = a11 x12 + 2a12 x1 x2 + a22 x22 und f1 = a11' x12 + 2a12' x1 x2 + a'22 x22 gehören die Invarianten A00 = a11a22a122; A01 = a11a22' – 2a12 a12' + a22a11'; A11 = a11'a22'a12'2 und die Kovariante B01 = (a11 a12'a12 a11') x12 + (a11 a22'a22 a11') x1x2 (a12 a22'a22 a12')x22.

[208] Geometrische Deutung. Die binären Formen stellen, gleich Null gesetzt, Gleichungen von Punktsystemen auf einer Geraden dar (z.B. sind f0 = 0 und f1 = 0 Punktpaare). Der linearen Transformation entspricht die projektivische Verwandtschaft (oder auch die Aenderung des projektivischen Koordinatensystems). Durch Nullsetzen der Invarianten erhält man Bedingungen für projektivische Eigenschaften der Punktsysteme, durch Nullsetzen der Kovarianten Gleichungen von solchen Punktsystemen, die in bezug auf die gegebenen projektivische Eigenschaften besitzen., A00 = 0 ist die Bedingung, daß die zwei Punkte f0 = 0 zusammenfallen, A01 = 0 die Bedingung, daß die beiden Paare f0 = 0 und f1 = 0 sich harmonisch trennen; B01 = 0 ist die Gleichung eines Punktepaars, das zu beiden Paaren harmonisch liegt, oder das Doppelpunktepaar der von beiden bestimmten Involution. Die Formen werden symbolisch als Potenzen von linearen Formen a1 x1 + a2 x2 = ax aufgefaßt; alsdann sind die Invarianten Produkte oder ganze rationale Funktionen von Klammerfaktoren vom Typus (a1 a2'a2 a1') = (a a'), während bei den Kovarianten noch Linearfaktoren vom Typus ax hinzutreten. Ist eine Invariante von höherem Grad in den Koeffizienten einer Form, so muß sie mittels des Aronholdschen Prozesses auf eine solche zurückgeführt werden, die linear von mehreren Formen abhängt (z.B. 2 A00 auf A01). Im symbolischen Ausdruck einer solchen Form treten dann mehrere Symbole auf, die sich auf dieselbe Form beziehen und durch Buchstaben unterschieden werden (a, b, c ...), während Symbole von verschiedenen Formen durch Striche unterschieden werden (a, a', a'' ...). Symbolisch ist f0 = ax2; f1 = ax'2; A00 = (a b)2; A01 = (a a')2; A11 = (a' a')2 B01 = (a a') ax ax'. Die symbolische Bezeichnung und Rechnung (mittels Identitäten) dient zur Vereinfachung der Rechnungsarbeit, die zur Ermittlung der Eigenschaften und gegenseitigen Beziehungen der Invarianten erforderlich ist.

Unter den Prozessen, die zur Bildung von Invarianten führen, ist zu nennen der Faltungsprozeß, der in der Verwandlung zweier Linearfaktoren ax ax' in einen Klammerfaktor (a a') besteht [(a a') ax ax'; (a a')3]. Durch Faltungen von Produkten von Formen oder Kovarianten entstehen Ueberschiebungen. Die erste Ueberschiebung zweier Formen heißt Funktionaldeterminante derselben, die zweite einer Form über sich selbst Hessesche Form. Zwei Formen n ter Ordnung, deren n te Ueberschiebung Null ist, heißen apolar. Der Polarenprozeß besteht in der teilweisen Einführung neuer Veränderlicher in die Linearfaktoren; aus ax3 wird so ax2ay; axay2; ax ay az. Eine Invariante irgend welcher Form f, f', f'' ..., die sich bei Ersetzung dieser durch lineare Kombination derselben λ f + λ' f' + λ'' f'' + ... nur um einen konstanten Faktor ändert, heißt Kombinante. Zu denselben gehören die Resultanten (s.d.); mit diesen stehen ferner die Diskriminanten (s.d.) in Beziehung.

Ist i eine Invariante der Form n-Ordnung a0 xn + a0 xn – 1 + ... + an, so genügt sie den vier Differentialgleichungen:


Invariantentheorie

Reziprozitätsgesetz: Eine Form n-Ordnung besitzt ebenso viele unabhängige Invarianten vom Grad g in ihren Koeffizienten, wie eine Form g-Ordnung solche vom Grad n in den Koeffizienten. Die Gesamtheit aller derjenigen zu einer Form f gehörigen Invarianten und Kovarianten, von denen keine sich als rationale ganze Funktion der übrigen ausdrücken läßt, heißt das vollständige Formensystem von f. Eine Form (2n – 1)-Ordnung läßt sich immer in kanonischer Form, d.h. als Summe der (2n – 1) ten Potenzen von n linearen Formen (den Faktoren der Kanonizante) darstellen, während bei einer Form 2n ter Ordnung eine Invariante, die Katalektikante, verschwinden muß, damit erstere als Summe der 2n ten Potenzen von n linearen Formen darstellbar ist. Bei der sogenannten typischen Darstellung der Formen, Invarianten und Kovarianten werden die Veränderlichen nicht allgemein angenommen, sondern sie stehen bereits in einer gewissen Beziehung zur gegebenen Form. Bei einer Form fünfter Ordnung können z.B. zwei Kovarianten erster Ordnung als Veränderliche dienen.

Die tertiären Formen werden symbolisch als Potenzen linearer Formen ax = a1 x1 + a2 x2 + a3 x3 aufgefaßt. Alsdann bauen sich die Invarianten aus Klammerfaktoren vom Typus


Invariantentheorie

auf; bei den Kovarianten kommen noch Linearfaktoren ax hinzu. Gleich Null gesetzt, geben die ternären Formen Gleichungen von algebraischen Kurven (als Punktgebilde), die Invarianten projektivische Eigenschaften derselben; die Kovarianten liefern Kurven mit projektivischen Eigenschaften in bezug auf die gegebenen.

Als Kontravarianten bezeichnet man solche Invarianten, in welchen Linienkoordinaten, d.h. Determinanten von zwei Veränderlichenreihen:


Invariantentheorie

vorkommen (ist z.B. a11 x12 + ... = 0 ein Kegelschnitt in Punktkoordinaten, so liefert die Kontravariante (a22 a33a232) u12 + ... = 0 denselben Kegelschnitt in Linienkoordinaten). Zwischenformen sind Invarianten mit Veränderlichen beider Kategorien; sie liefern, gleich Null gesetzt, projektivische Verwandtschaften zwischen Punkten, Geraden und Kurven in der Ebene. Die Invariantentheorie der quaternären Formen liefert die projektivischen Eigenschaften der Flächen im Raum.


Literatur: Von den genannten Werken dient [1] zur Einführung; [2] und [3] sind besonders zum Studium zu empfehlen; [7] ist für Vorgerücktere bestimmt; [8] bietet eine Vorbereitung für geometrische Anwendungen, die in [2] am meisten berücksichtigt sind. – [1] Klempt, Lehrbuch zur Einführung in die moderne Algebra, Leipzig 1880. – [2] Clebsch, A., Vorlesungen über Geometrie, herausgegeben von Lindemann, Leipzig 1876, Bd. 1, 2. Abteilung. – [3] Ders., Theorie der binären algebraischen Formen, Leipzig 1871. – [4] Gordan, P., Vorlesungen über Invariantentheorie,[209] herausgegeben von Kerschensteiner, Bd. 2, Binäre Formen, Leipzig 1887. – [5] Salmon, G., Vorlesungen über die Algebra der linearen Transformationen, deutsch von Fiedler, Leipzig 1877, 2. Aufl. – [6] Faà di Bruno, Einleitung in die Theorie der binären Formen, deutsch von Th. Walter, Leipzig 1881. – [7] Study, E., Methoden zur Theorie der ternären Formen, Leipzig 1889. – [8] Muth, P., Grundlagen s.d. geometr. Anwendung der Invariantentheorie, Leipzig 1895.

Wölffing.


http://www.zeno.org/Lueger-1904.

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