Einflußlinien, Einflußfläche

Einflußlinien, Einflußfläche

Einflußlinien, Einflußfläche. Einflußlinien oder Influenzlinien zeigen in ihren Ordinaten den Beitrag an, den eine wandernde Einzellast P = 1 jeweils an der betreffenden Stelle eines Bauwerks zu irgend einer in Betracht gezogenen Größe (Auflagerwiderstand, Stabkraft, Biegungsmoment, Einsenkung u.s.w.) liefert. Die von der Einflußlinie und ihrer Abszissenachse eingeschlossene Fläche heißt Einflußfläche der betrachteten Größe. Zuweilen ergibt sich die Einflußfläche als Differenz zweier Flächen, so daß sie durch zwei gebrochene oder gekrümmte Linienzüge begrenzt ist und die Ordinatendifferenz dem Einfluß der wandernden Last entspricht.

Die Einflußlinien gewähren einen vorzüglichen und augenfälligen Ueberblick über die Wirkung einer veränderlichen Belastung und über die durch sie erzeugten Grenzwerte der Momente, Stabkräfte u. dergl. Aus diesem Grunde werden die Einflußlinien zur statischen Berechnung von Brückenträgern in allen den Fällen benutzt, wo die andern Methoden umständlich werden oder keine klare Uebersicht über die Grenzwerte mehr zulassen, und wo die Verkehrsbelastung aus einer Reihe konzentrierter Einzellasten besteht. Sie leisten also gute Dienste bei der Berechnung aller statisch unbestimmten Konstruktionen wie kontinuierliche Träger, Bogenträger, Hängebrücken, Balkenträger mehrfachen Systems. Den Einfluß einer gegebenen Reihe von Einzellasten findet man, indem man die in den Angriffslinien dieser Lasten liegenden Ordinaten der Einflußfläche je mit den betreffenden Lasten multipliziert und die Summe der Produkte bildet, dabei können die Ordinaten gleichgroßer Lasten mit dem Zirkel addiert werden. Handelt es sich um die Ermittlung von Grenzwerten, so ist zunächst die ungünstigste Stellung des Lastenzugs aufzuziehen; man wird hierbei die Lasten so zu gruppieren und zu stellen haben, daß möglichst viele und große Lasten in die Nähe der größten Ordinate der Einflußlinie fallen. Um das wiederholte Aufzeichnen der Lastenreihe zu vermeiden, kann man sie auf ein Stück Pauspapier aufzeichnen und dann in die betreffende Lage verschieben. Den Einfluß gleichmäßig verteilter Belastung p findet man durch Multiplikation von p mit dem Inhalt der Einflußfläche. Die Nullpunkte der Einflußlinien sind die Belastungsscheiden.

Die Ermittlung der Einflußlinien kann bald auf graphischem, bald auf rechnerischem Wege erfolgen, sehr häufig werden beide Verfahren kombiniert. Fast allgemein lassen sich die Einflußlinien auf Grund des Satzes von den virtuellen Arbeiten als Biegungslinien (s.d.) auffassen und zeichnen. Für den Balken A B (Fig. 1) ergibt sich die Einflußfläche des Biegungsmomentes im Punkte C, d.h. das Dreieck A1 B1 C1, wie folgende Betrachtung zeigt: M sei das Moment, das im Schnitte C unter dem Einflusse der Last P entsteht, und δ der Formänderungswinkel eines in C gelegenen Balkenelements. Ist nur dieses eine Element elastisch,[233] so nimmt die Balkenachse die Form einer geknickten Linie A1 C1 B1 an, und P senkt sich um die Strecke m. Nach dem Satze von den virtuellen Arbeiten sind die von M und P verrichteten Arbeiten gleichgroß, folglich ist = Pm. Macht man δ = 1, wie es in der Figur geschehen ist, so wird M = Pm. Ist die Last gleichförmig verteilt gleich p, so ist M gleich p mal dem Inhalte der entsprechenden Einflußfläche. Wirkt die Belastung mittelbar (durch Querträger) auf den Balken und liegt C zwischen zwei Angriffspunkten der Belastung, so wird die Ecke C1 durch eine Gerade abgeschrägt, deren Endpunkte unter den benachbarten Angriffspunkten liegen. Denkt man sich das Element in C nur elastisch hinsichtlich der Deformation durch die Querkraft Q, so bewirkt diese eine Querverschiebung der beiden Balkenteile AC und CB und die Balkenachse nimmt die Form A2C2C'B2 an. Da nach dem Satz von den virtuellen Arbeiten P q = Q · c ist, so sind für c = 1 die Ordinaten q die Einflußordinaten und die Fläche A2C2C2'B2 die Einflußfläche der Querkraft Q. Bei mittelbarer Lastübertragung ist die Linie C2' schief zu ziehen, indem die Punkte C2 und C2' unter den benachbarten Querträgern liegen müssen.

Mit denselben Ueberlegungen lassen sich die Einflußlinien der Momente und Querkräfte beim vollwandigen Gelenkträger rasch finden (Fig. 3). Da aber Gelenkträger meist als Fachwerk ausgeführt werden, sei auf den Art. Gelenkträger und auf das Folgende verwiesen. In Fig. 2 ist die Einflußfläche für den dritten oberen Gurtstab des Fachwerkträgers AB gezeichnet. Denkt man sich diesen Stab allein elastisch, so erleidet das Fachwerk eine Knickung im Drehpunkte D, dargestellt durch die gebrochene Linie A1D1B1, mit der Winkeländerung δ. Hierbei senkt sich die Last P um die Strecke m. Die Gleichsetzung der virtuellen Arbeiten ergibt Ooδ = Pm. Macht man δ = 1, wie es in der Figur geschehen ist, so wird O = Pm : o. Auf die gleiche Weise ergibt sich die Einflußlinie des Gurtstabs des kontinuierlichen Gelenkträgers Fig. 3; aus der Verlängerung des betreffenden Gurtstabs folgt unmittelbar die Form der Einflußlinie.

Für die Einflußlinien der Füllungsglieder der Fachwerke könnte man dieselbe kinematische Theorie oder das Gesetz der virtuellen Verschiebungen anwenden, jedoch ist hier nicht mehr die Uebersichtlichkeit vorhanden wie bei den Gurtstäben. Man gibt daher der Ermittlung der Einflußlinien für die Diagonalen- und Pfostenkräfte nach rein statischen Erwägungen den Vorzug. In Fig. 4 handle es sich um die Einflußlinie der Diagonalkraft S. Solange sich die Einzellast P = 1 rechts vom betreffenden Feld befindet, ist die Kraft S oder die Ordinate der Einflußlinie unter P nur abhängig vom Auflagerwiderstand A, und es ist klar, daß mit dem Fortschreiten der Last P von B nach C' hin A und damit auch S proportional dem Abstand der Last P vom rechtsseitigen Auflager zunimmt. Die Einflußlinie zwischen B und C ist also eine gerade Linie, die in ihrer Verlängerung auf der Senkrechten durch das linke Auflager eine Strecke SA = 1 abschneidet, die der Kraft S für A = 1 entspricht. Denkt man sich[234] die Einzellast P = 1 links vom betreffenden Feld zwischen A und C wirkend, so führt die gleiche Ueberlegung auf die gerade Einflußlinie A1 C1 die, bis zur Senkrechten durch das rechte Auflager verlängert, dort ein Stück SB = 1 abschneidet, das gleich der Diagonalkraft S infolge B = 1 ist. In Fig. 4 sind die Kräftepläne angegeben, die für die Ermittlung der Kräfte SA = 1 und SB = 1 nötig werden. Es ist dabei eine gegebene Kraft A = 1 oder B = 1 mit den drei Kräften O, S und U ins Gleichgewicht zu setzen, wobei die Hilfskraft L als Resultierende von U und A = 1 als auch von S und O eingeführt wird. Zwischen C1 und C1' verläuft die Einflußlinie gerade, weil in den Knoten der Fachwerke immer Querträger vorhanden sind. Die Geraden A1C1 und B1C1' schneiden sich senkrecht unter dem Schnittpunkt der Gurtstäbe U und O. Auf die gleiche Art können auch die Einflußlinien der Gurtungskräfte konstruiert werden; die Kräfte O der beiden Kräftepläne sind nämlich die Abschnitte der Geraden A1D1 und B1D1 (Fig. 2) auf den Senkrechten durch A1 und B1.

Für die Berechnung von Fachwerkträgern mehrfachen Systems (Fig. 5) werden Einflußlinien fast ausschließlich verwendet. Man denkt sich dabei das System in seine Einzelsysteme zerlegt und macht die Voraussetzung, daß die Füllungsglieder des einen Systems nicht beansprucht werden, wenn die Einzellast P = 1 an einem Knotenpunkt des andern Systems angreift. Da aber die Einflußlinie zwischen je zwei Querträgern gerade verläuft, ergibt sich die in Fig. 5 dargestellte Form A2 B2 der Einflußlinie für die Diagonale S. Die Einflußlinie des Obergurtstabes O hat die Form A1C1C1'B1, wobei die Eckpunkte abwechselnd auf den beiden Einzelsystemen angehörenden Einflußlinien der Stabkraft O liegen. Bei Parallelträgern liefern die so konstruierten Einflußlinien fast genaue Resultate, die Abweichungen von der genauen, nach der Elastizitätstheorie durchgeführten Rechnung werden um so größer, je mehr die Trägerform von der des Parallelträgers abweicht; der Grund liegt darin, daß die gemachte Voraussetzung über die Lastverteilung in den Einzelsystemen nicht mehr zutrifft.

Vorzügliche Dienste leisten die Einflußlinien auch bei der Berechnung der Dreigelenkbogen, die sehr häufig bei Stein- und Betonbrücken ausgeführt werden, und zwar verdienen sie hier den Vorzug vor allen andern Methoden. Wenn es sich um die Ermittlung des Moments M, bezogen auf irgend einen Punkt K, eines Querschnitts handelt, können wir uns das Bogenelement bei K allein als elastisch vorstellen und aus irgend welchen Ursachen eine solche Deformation annehmend, daß eine kleine Drehung 8 um den Punkt K eintritt, alsdann ist (Fig. 6) P m = M δ. Bei der gedachten Bewegung wird sich das mittlere Bogenstück G K um den Punkt E drehen müssen, so daß, wenn P unter E angreift, m = 0 wird; es folgt also auch auf kinematischem Weg, daß E die Belastungsscheide vorstellt. Betrachten wir das Bogenstück zwischen E und B und machen δ = 1, so erhalten wir das Resultat, daß die Einflußlinie zwischen e und b genau so zu konstruieren ist wie für einen horizontalen frei aufliegenden Balken von der Länge e' – b'. Aus dem leicht zu konstruierenden Dreieck e k b folgt dann die ganze Einflußlinie a g' k b. Wie sich rechnerisch nachweisen läßt, wenn man[235] auf Grund statischer Erwägungen die Gleichungen der einzelnen Geraden aufstellt, sind die Abschnitte a q und b r gleich den horizontalen Entfernungen der Punkte Q bezw. R von der Lotrechten durch K. In praktischen Fällen wählt man als Momentenpunkte die Kernpunkte der Bogenquerschnitte und erhält aus den Einflußlinien die Grenzwerte der Kernpunktsmomente und daraus diejenigen der Randspannungen. Ausführliches hierüber [10].

Bei den statisch unbestimmten Bogenträgern werden die Einflußlinien der Momente als Differenz von zwei oder mehreren Einflußlinien erhalten; man hat in diesem Fall zuerst irgendwie die Einflußlinien der statisch unbestimmten Reaktionen zu bestimmen und daraus die Einflußlinien der Momente für beliebige Querschnitte abzuleiten. Vgl. Bogen, graphische Berechnung.

Besonders nützlich erweisen sich Einflußlinien, wenn es sich darum handelt, die Durchbiegung eines Trägers an einer bestimmten Stelle (etwa in der Mitte der Spannweite) für eine veränderliche Reihe von Einzellasten zu bestimmen. Man zeichnet zu diesem Zwecke die Biegungslinie für eine an der betreffenden Stelle aufgelegte Einzellast und erhält dabei nach dem Satz von der Gegenseitigkeit der Formänderungen die Einflußlinie für die Durchbiegung an dieser Stelle.


Literatur: [1] Mohr, Zeitschr. des hannoverschen Arch.- und Ingen.-Vereins 1868, S. 19. – [2] Weyrauch, Theorie und Berechnung der kontinuierlichen und einfachen Träger, Leipzig 1873. – [3] Fränkel, Civilingenieur 1876, S. 441. – [4] Melan, Zeitschr. des hannoverschen Arch.- und Ingen.-Vereins 1880, S. 219. – [5] Müller-Breslau, Wochenbl. für Arch. und Ingen. 1883, S. 353. – [6] Winkler, Theorie der Brücken, Heft 1, Wien 1886. – [7] Handbuch des Brückenbaus, Leipzig 1890. – [8] Land, Zeitschr. für Bauwesen 1890, S. 105. – [9] Müller-Breslau, Graphische Statik, Bd. 2, Leipzig 1892; Ders., Neuere Methoden der Festigkeitslehre u.s.w., Leipzig 1893. [10] Keck, Vorträge über Elastizitätslehre, Hannover 1893. – [11] Mörsch, Zeitschr. für Arch.- und Ingenieurwesen 1900, Heft 2.

Mörsch.

Fig. 1.
Fig. 1.
Fig. 2., Fig. 3.
Fig. 2., Fig. 3.
Fig. 4.
Fig. 4.
Fig. 5.
Fig. 5.
Fig. 6.
Fig. 6.

http://www.zeno.org/Lueger-1904.

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