- Elastizitätslehre, allgemeine
Elastizitätslehre, allgemeine, die Lehre von den elastischen Kräften, Formänderungen, Volumenänderungen und Bewegungen beliebiger wirklicher Körper (d.h. nichtstarrer Körper, vgl. Elastizität, Kohäsion). Sie hat also sowohl die Beziehungen der Elastizitäts- und Festigkeitslehre (s.d.) wie die Gesetze elastischer Schwingungen (s.d.), einschließlich von Schall- und Lichtschwingungen, zu umfassen und auch thermo-dynamischen Zustandsänderungen Rechnung zu tragen. Demgemäß sind ihre Voraussetzungen möglichst zu beschränken.
Spannungen. Es mögen zunächst nur die Grundgesetze der reinen Mechanik gelten. Die Widerstände, welche die Körper Gruppierungsänderungen ihrer Teilchen entgegensetzen, zeigen, daß unter dem Einflusse der äußeren Kräfte (s.d.) innere Kräfte entstehen. Diese werden für die in beliebigen durch den Körper gedachten Schnitten gegeneinander liegenden Flächenelemente irgend welche Flächenkräfte erzeugen (s. Druck) und so auch die Wirkung der äußeren Kräfte weiter tragen. Solche Flächenkräfte pro Flächeneinheit oder spezifische Flächenkräfte heißen Spannungen. Man bezeichnet sie bei allgemeinen Untersuchungen zweckmäßig derart, daß die Hauptbezeichnung ihrer Richtung entspricht, während der Index die Normalenrichtung (Richtung der Normalen) des ergriffenen Flächenelements von einem anliegenden Bezugspunkte m aus angibt (Fig. 1). Für Normalspannungen (Spannungen normal ihren Flächenelementen) stimmen Hauptbezeichnung und Index überein; sie werden im folgenden als positiv oder negativ angesehen, je nachdem sie Zug oder Druck bedeuten (s. Druck). Jede Spannung läßt sich in Komponenten parallel den Achsrichtungen eines rechtwinkligen Koordinatensystems zerlegen, auf welches das Gleichgewicht oder die Bewegung des betrachteten Körpers bezogen wird. Es sind dann nach obiger Festsetzung die Spannungskomponenten in den Richtungen
Bezeichnen ferner für ein Körperelement beim Punkte m (x, y, z) μ die spezifische Masse (Masse der Volumeneinheit, s. Dichtigkeit), X, Y, Z die spezifischen Massenkräfte (Massenkräfte pro Masseneinheit, s. Aeußere Kräfte, Materielles System) und u, v, w die Geschwindigkeitskomponenten in den Richtungen x, y, z, dann liefern die Grundgleichungen der Mechanik zwischen Kräften und Beschleunigungen unter Anerkennung des Newtonschen Prinzips der Gleichheit von Aktion und Reaktion für die Spannungen auf Flächenelemente der Normalenrichtungen x, y, z [10], S. 28:
und für die Komponenten der resultierenden Spannung Rn auf ein Flächenelement beliebiger Normalenrichtung n bei m in den Richtungen x, y, z [10] S. 29:
worin r die Richtung der als Absolutwert aufzufassenden Totalspannung Rn bedeutet, während der Winkel einer Richtung g mit einer gegebenen Richtung g0 allgemein durch (gg0) bezeichnet ist (Fig. 1). Die Komponente von Rn in beliebiger Richtung s hat man:
wonach beispielsweise die Normalspannung mit s = n:
[390] Sind die Spannungen stetige Funktionen des durch die Koordinaten und Normalenrichtungen bestimmten augenblicklichen Orts ihrer Flächenelemente, und in 1. die Ausdrücke rechts den Xn, Yn, Zn gegenüber nicht unendlich groß, dann gelten die Gleichungen 2. mit konstanten Werten der rechtsseitigen Spannungen für alle m (x, y, z) unendlich nahe liegenden Flächenelemente beliebiger Normalenrichtungen n, und für die Schubspannungen (Spannungen längs der Flächenelemente, vgl. Druck) [10], S. 30:
Durch die Spannungen auf drei zueinander senkrechte Flächenelemente bei einem beliebigen Punkte m sind dann nach 2. die Spannungen auf alle andern Flächenelemente daselbst bestimmt. S.a. Spannungsellipsoid, Näheres [10], Abschn. I, II.
Verschiebungen. Die Wege der Körperpunkte in Hinsicht des angenommenen Koordinatensystems werden Verrückungen genannt, während die relativen Wege der Körperpunkte n hinsichtlich eines Körperpunktes m pro Einheit der ursprünglichen Entfernung m n Verschiebungen heißen. Die Beobachtung zeigt nun, daß Verrückungen und Verschiebungen beim Uebergange von einem Punkte zu einem benachbarten ihre Werte nicht plötzlich ändern, daß dieselben stetige Funktionen des Orts sind, abgesehen von gewissen Unstetigkeitsschnitten wie Risse, Gelenke u.s.w. Die folgenden Beziehungen setzen voraus, daß die betrachteten Punkte nicht auf verschiedenen Seiten solcher Unstetigkeitsschnitte liegen. Vor Eintritt der unterrichten Gruppierungsänderungen mögen die Koordinaten eines Körperpunktes m durch x, y, z, und diejenigen eines von ihm aus in der Richtung n um d n entfernten Punktes n durch x + d x, y + d y, z + d z bezeichnet sein (Fig. 2). Infolge der fraglichen Bewegungen sei der Punkt m nach x + ξ, y + μ, z + ζ gelangt. Werden nun die Vorrückungen ξ, μ, ζ, und ihre Differentialquotienten nach x, y, z als stetige Funktionen des Orts vorausgesetzt, derart, daß z.B. mit ξ = f (x, y, z) dem Taylorschen Lehrsatze entsprechend gilt:
und hierin die nicht angeschriebenen Glieder der Reihe als kleine Größen höherer Ordnung vernachlässigt werden dürfen, dann sind die relativen Wege von n gegen m pro Einheit der ursprünglichen Entfernung d n, d.h. die Verschiebungen von n gegen m in den Richtungen
oder, wenn r, rn Richtung und Absolutwert der resultierenden Verschiebungen von n gegen m bedeuten (Fig. 2) und die vollständigen Differentiale durch die drei partiellen Differentiale nach x, y, z ersetzt werden [10], S. 56:
Die Differentialquotienten auf den rechten Seiten dieser Gleichungen sind die Werte von Xn, yn, zn speziell für n = x, y, z, denn man erhält aus 6.
Die Komponente der Totalverschiebung rn in beliebiger Richtung s ist:
wonach beispielsweise die Komponente von rn in der ursprünglichen Richtung n des Punktes n von m aus (Fig. 2), die Normalverschiebung, mit s = n:
Durch die Differentialquotienten oder Verschiebungen 7. für drei zueinander senkrechte Richtungen bei einem beliebigen Punkte m sind nach 6. die Verschiebungen unendlich benachbarter Punkte in allen andern Richtungen von m aus bestimmt. S.a. Verschiebungsellipsoid, Dehnung in der allgemeinen Elastizitätslehre. Näheres [10], Abschn. I, III. Bei den angewendeten Bezeichnungen der Verschiebungen entspricht die Hauptbezeichnung einer Verschiebung ihrer Richtung, der Index der anfänglichen Richtung des verschobenen Punktes vom Bezugspunkte m aus.
Beziehungen zwischen Spannungen und Verschiebungen. Aus der stetigen Veränderlichkeit der Verschiebungen schließt man auf die stetige Veränderlichkeit der sie erzeugenden Spannungen, womit alle bisherigen Resultate ohne Rücksicht auf Proportionalität oder sonstige besondere Beziehungen zwischen Spannungen und Verschiebungen gelten. Um[391] letzteren Zusammenhang zu erforschen und die obigen Gleichungen in geeignete Formen für die interessierenden Körper und Probleme zu bringen, ist man sowohl auf Grund der Erfahrung (vgl. [10], Abschn. VI) als von Anschauungen der Molekulartheorie (z.B. in [10], Abschn. VII) ausgegangen. Als vollkommene Flüssigkeiten bezeichnet man Körper, in welchen nur normal den affizierten Flächenelementen wirkende Druckspannungen vorkommen (vgl. Druck, Kohäsion). Für solche liefern die Gleichungen 2., 4. mit cos (r x) = cos (n x), cos (r y) = cos (n y), cos (r z) = cos (n z) und Xy = Yx = Yz = Zy = Zx = Xz = 0 die Normalspannungen auf beliebig gerichtete Flächenelemente gleichgroß:
womit aus 1. die hydrodynamischen Grundzeichnungen entliehen (vgl. Hydrodynamik):
neben denen die sogenannte Kontinuitätsgleichung (s.d.) und eine von der Körperart abhängige Beziehung besteht, z.B. für Gase das Boyle-Gay-Lussacsche Gesetz (s.d.). Ueber reibende Flüssigkeiten s. [10], S. 46, 159. Während die gewöhnliche Ableitung der allgemeinen Beziehungen für stetige Spannungen die letzteren als Funktionen des augenblicklichen Orts ihrer Flächenelemente auffaßt, gehen die allgemeinen Beziehungen für stetige Verschiebungen von den anfänglichen Orten der verschobenen Punkte aus. Es zeigt sich jedoch, daß die Gleichungen 1.4. auch dann bestehen, wenn die nach stetigen Verrückungen und Verschiebungen zur Zeit t betrachteten Körper- und Flächenelemente nicht augenblicklich, sondern vor jenen Verschiebungen, zu einer Zeit t0, die Koordinaten x, y, z und Normalenrichtungen n hatten, die Spannungen sich auf die Flächeneinheit der Flächenelemente zur Zeit t0 beziehen, und μ die spezifische Masse bei x, y, z zu dieser Zeit bedeuten. Näheres s. [10], Abschn. IV. Nur die Gleichungen 5. brauchen dann nicht allgemein zuzutreffen [10], §§ 4850, 5760. Bei Untersuchung der Beziehungen zwischen stetigen Spannungen und Verschiebungen hat man nun zwar stets beiderlei Größen als Funktionen derselben Veränderlichen behandelt, die dann nur der Zeit t0 entsprechen konnten, die Ableitungen aber auf Fälle beschränkt, für welche infolge der Art der Verschiebungen, der geringen Größe derselben oder des genügend befundenen Näherungsgrades auch die Gleichungen 5. als zutreffend galten. Für beliebige isotrope Körper lassen sich alsdann die Beziehungen zwischen Spannungen und Verschiebungen unter die Formen bringen [10], § 36:
worin G, der Gleitungskoeffizient oder Schubelastizitätsmodul (s. Elastizitätsmodul), innerhalb der betrachteten Verschiebungen als konstant angenommen wird (eventuell als Mittelwert). Mit diesen Ausdrückungen sowie
und den Bezeichnungen:
(bezüglich ω s. Dilatation) entstehen aus 1. folgende Hauptgleichungen für elastische Bewegungen beliebiger isotroper Körper:
In 12., 13., 16. hat man für vollkommene Flüssigkeiten [10], 57, 60, 65:
für isotrope feste Körper auf Grund der Erfahrung, bei Zulassung von Temperaturänderungen T gegenüber der dem spannungslosen Zustande entsprechenden Normaltemperatur, [10], 48, 50, 65:
worin E der Elastizitätsmodul (s.d.), α der lineare Ausdehnungskoeffizient (s.d.), welche wie G für die betrachteten Verschiebungen konstant vorausgesetzt werden (Mittelwerte). Für beliebige isotrope Körper ergibt die übliche Annahme, daß bei konstanter Temperatur die Wechselwirkung zwischen zwei Körperpunkten nur von ihren Massen und ihrer Entfernung abhängt, bei Zulassung von Temperaturänderungen, [10], §§ 57, 65:
worin ebenfalls P, J, G Konstante. Ohne Verrückungen und Temperaturänderungen sind nach 12., 13., 18. die Spannungen für alle Flächenelemente bei einem Punkte m gleichgroße Normalspannungen P, während speziell für feste Körper dies P gleich Null sein kann und damit ein spannungsloser Zustand als möglich vorausgesetzt wird. Die Uebereinstimmung von 17. und 18.[392] für isotrope feste Körper verlangt, daß für solche ε = 4 und damit G = 2/5 E sei, wie dies schon Poisson abgeleitet hat (vgl. Elastizitätsquotient). Uebrigens läßt sich analog 17. für beliebige isotrope Körper ableiten [11], A 59:
und liefert dann der Vergleich mit 18. auch für diese ε = 4, G = 2/5 E. Vgl. [11], A 73.
Ueber nicht isotrope Körper mit und ohne Elastizitätsachsen s. [10], Abschn. VII, über die bei Formänderungen beliebiger Körper in Betracht kommenden Arbeiten, lebendigen Kräfte und sonstigen Formen von Energie [10], Abschn. V, VIII (vgl. Verschiebungsarbeit, Clapeyrons Theorem, Energie, Aeußere Arbeit u.s.w.) Spezialisierung obiger Gleichungen für elastische Schwingungen in [10], Abschn. XII (vgl. Elastische Schwingungen), zahlreiche Anwendungen derselben und weitere Beziehungen für elastische Körper in [11] und der übrigen nachstehenden Literatur.
Literatur: [1] Navier, Mémoire sur les lois de l'équilibre et du mouvement des corps solides élastiques, Mémoires de l'Académie royale des sciences, 1824, Bd. VII, S. 375. [2] Poisson, Mémoire sur l'équilibre et le mouvement des corps élastiques, Mémoires de l'Acad. royale des sciences, 1825, Bd. VIII, S. 357. [3] Lamé, Leçons sur la théorie mathématique d'élasticité des corps solides, Paris 1852 (2. Aufl., Paris 1866). [4] Clebsch, Theorie der Elastizität fester Körper, Leipzig 1862 (französische Ausgabe mit umfassenden Anmerkungen von Saint-Venant, Paris 1883). [5] Wand, Ueber die Elastizität der festen Körper und die optischen Erscheinungen, München 1868. [6] Beer, Einleitung in die mathematische Theorie der Elastizität und Kapillarität, Leipzig 1869. [7] Kirchhoff, Vorlesungen über mathematische Physik, I, Mechanik, Leipzig 1877. [8] Klein, Theorie der Elastizität, Akustik und Optik, Leipzig 1877. [9] Thomson u. Tait, Treatise on natural philosophy, Cambridge 187983 (deutsch von Helmholtz und Wertheim nach der Ausgabe von 1867, Braunschweig 187174). [10] Weyrauch, Theorie elastischer Körper, Leipzig 1884. [11] Weyrauch, Aufgaben zur Theorie elastischer Körper, Leipzig 1885. [12] Neumann, Vorlesungen über die Theorie der Elastizität der festen Körper und des Lichtäthers, Leipzig 1885. [13] Boussinesq, Application des potentiels à l'étude de l'équilibre et du mouvement des solides élastiques, Paris 1885. [14] Todhunter u. Pearson, A History of the theory of Elasticity and of the strength of materials, I, Cambridge 1886; II, Cambridge 1893. [15] Mathieu, Théorie de l'élasticité des corps solides, Paris 1890. [16] Poincaré, Leçons sur la théorie de l'élasticité, Paris 1892. [17] Love, A treatise on the mathematical theory of Elasticity, Cambridge 189293. [18] Voigt, Kompendium der mathematischen Physik, I, Leipzig 1895 (2. Teil: Mechanik nicht starrer Körper). S.a. Elastizitäts- und Festigkeitslehre, Elastizitätsgesetz, Elastische Schwingungen u.s.w.; zahlreiche Lehrbücher der Mechanik und Physik (Violle, Winkelmann u.s.w.) geben Auszüge der Elastizitätslehre.
Weyrauch.
http://www.zeno.org/Lueger-1904.